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Mitten im Matsch: Ätsch! Eine Blume. Rein und scharf - zaubert Erwachen.

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Zwei Augen schauen dich an
10. Februar, 2004

Schrei, wenn du kannst - mit dem TV nach ganz unten

Seit Mitte September hab ich einen Fernseher. Ein Geschenk. Ich hab' es angenommen, weil ich mir vorstellte, ich würde dann wenigstens die Berliner Abendschau gucken, die um halb acht so ein heimelig provinzielles Wir-Gefühl vermittelt. Und natürlich die Tagesschau, ab und zu einen "guten Film". Mal auf die Couch wechseln und nicht auch noch abends dem Sog des Netzes erliegen, zu langes Sitzen schmerzt.

Lauter schöne Ideen. Und die Realität? Gerade hab ich wieder einen Abend vor dem Gerät verbracht. Bin einfach davor sitzen geblieben, beginnend mit der Abendschau. Dazu Lachs, Reis und Salat - halbwegs gesund und trotzdem gut. Danach ein schwarzer Tee, der erste seit Längerem. Ob es nun der Tee war oder das leichte Essen, weiß ich nicht: auf einmal fühlte ich mich jedenfalls angenehm beschwingt, ohne mich nach etwas zu sehnen. Als hätte ich von jetzt auf gleich ein paar Kilo abgeworfen - und jede Bewegung fühlte sich gut an. Ziemlich anders als das übliche Völlegefühl nach z.B. zwei überbackenen Käsebroten. Ich räumte das Geschirr weg und putzte ein bisschen in der Küche herum. Im Hintergrund tönten die ernsten Stimmen der Tagesschau, ohne dass ich hätte zuhören wollen.

Auf einmal empfand ich das Dasein auf sehr angenehme Weise als Ausnahmezustand. Als unerklärliches Wunder. Die einfache Tatsache, hier zu sein, mich zu spüren, mich zu bewegen, alleine zu sein und NIEMAND zwingt oder verlockt mich zu irgend etwas; keine Erwartungen von irgendjemandem, die mich in eine bestimmte Form drängen.

Nichts, einfach da sein. Ich kann es schlecht beschreiben - es war nicht euphorisch, nicht neurotisch angereichert, kein High und keine besondere Erleuchtung. Und trotzdem ein Gefühl von absoluter Besonderheit, eine völlige Abwesenheit von Ängsten und Begehren, die den Blick öffnete für das Wunder des Existierens.

In diesen zehn Minuten staunenden Daseins war ich völlig frei, die üblichen vernünftigen Gedanken ("aber Steuer 2002 hast du immer noch nicht gemacht, es wird einen Verspätungszuschlag geben") blieben einfach weg. Wäre ich negativ gestimmt gewesen, hätte ich was Schweres gegessen, Bier oder Kaffee statt Tee getrunken, hätte vermutlich der übliche Zirkus im Kopf geherrscht: Ängste, Pläne, Wünsche, ein ständiges Kreisen in vermeintlich "sinnvollen" Überlegungen, Anfälle von Erlebnishunger, um diesen leidigen Gedankenballast zu übertönen - heute jedenfalls war es anders. Einfach wunderbar, fast schwebte ich durch die Räume!

Kam jedoch aus der Küche zurück und setzte mich wieder vor den Fernseher. Einen Moment noch fühlte ich es fast als Versuchung, statt dessen Yoga zu machen, ganz langsam, ohne "Programm im Kopf" - einfach so, um mich tiefer in diese Empfindung fallen zu lassen, um den "satten Geschmack des Daseins" länger und immer deutlicher wahrzunehmen.

Das volle Programm

Doch die Mächte der Finsternis waren wieder einmal stärker. Erst kam ja auch ein "guter Film", kein Grund, nicht mal rein zu sehen. ZDF, Fernsehfilm der Woche - er hieß "Zurück ins Leben" und handelte von einer Mutter, die noch nach vielen Jahren nach ihrer vermissten Tochter sucht, sich einfach nicht mit deren nahezu gewissen Tod abfinden kann. Sensibel gedreht, anrührend, europäisch eben, kein Hollywood-Schrott. Natürlich blieb ich an der Geschichte hängen, ging wie immer, wenn ich Filme sehe, ganz in der Handlung auf. (Distanziertes oder gar kritisches Filme-Betrachten würde mir den Genuss rauben, darum bemühe ich mich nie). So ließ ich mich also eindreiviertel Stunden vom Schicksal und den Erlebnissen dieser Frau betreffen, trauerte mit ihr, rastete mir ihr aus, zündete fast das Haus an, floh aus der Psychiatrie, reiste nach Schweden, um dort nach langem Suchen wieder vor der Falschen zu stehen. Und am Ende dann die Erlösung: Sie schafft es, sich innerlich frei zu machen, ihre Tochter zu verabschieden und kehrt "zurück ins Leben".

Irgendwo war in mir ein kleiner Rest des vorherigen Bewusstseinszustands übrig geblieben, eine kleine Beobachter-Funktion. Und die wunderte sich: warum mache ich das? Warum verschwende ich kostbare Stunden, um mich in fremde Dramen einzufühlen? Ich schaute erstaunt zu, wie mir die Tränen kamen, als die Mutter eine Rose in den See warf. Spürte das Angenehme an diesem Mit-fühlen, eine Art Baden der Psyche in Trauer, Verzweiflung und Leid, - echte Gefühle, jedoch ohne ihnen ausgeliefert zu sein: ist ja nur ein Film! Und natürlich kümmert sich der Fernsehfilm der Woche verlässlich darum, dass die Tiefs kurz vor Filmschluss sämtlich wieder ausgeglichen werden. Man sitzt ja "in der ersten Reihe" und wird ordentlich harmonisiert in die Tagesthemen entlassen. Doch vorher noch ein kurzer Trailer: "Schrei, solang du kannst" - GLEICH!!! Das Montagskino, heute präsentiert von Rotkäppchen Sekt.

Mittlerweile war ich auf der Couch schier festgewachsen, in eine Wolldecke gemummelt und fühlte mich so richtig heimelig. Das Primaten-Herz war bedient, jetzt konnte der Abstieg ins Reptilische beginnen: Dieser Film ist für Zuschauer unter 16 Jahren nicht geeignet! Und ja, er bot dann auch das volle Programm: ein Psychopath schlachtet ganze Familien ab, die Polizei verfolgt falsche Fährten, grausige Leichen in Säcken, der Täter schlägt ihnen die Köpfe ab und lässt, wie man hört, die noch Lebenden zusehen. Schon bald weiß der Zuschauer, dass es ein Jugendlicher ist, der als Dreijähriger eben dieses Drama in der eigenen Familie überlebt hat: er war dem Schlächter zu jung, um "schuld an allem" zu sein. Also trat der Junge in seine Fußstapfen, sobald er bei ein paar Mädels in der Schule nicht recht angekommen war.

Die deutsch-skandinavische Produktion bot sämtliche Hollywood-typischen Horror-Elemente, nur nicht ganz so gut. Auch die typische Hackebeil-Verfolgung fehlte nicht, doch gelang es dem Täter natürlich nicht, die Mann-lose Hauptfamilie des Films umzubringen. Beim Showdown schlugen sich Mutter und Töchter tapfer, den finalen Rettungsschuss setzte jedoch der männliche Ermittler. Alles war gut.

Und ich fühlte mich leer. Mein Mitfühlen in den niederen Regionen aus Horror, Angst und Schrecken ist nicht mehr so stark wie früher, aber immer noch intensiv genug, um nicht gelangweilt abzuschalten. Ich hatte das "volle Programm" genossen: das Info-Gewitter der Nachrichten als Background-Sound zum Abschalten, das Schwelgen in Herz-Gefühlen, Trauer und Leid, schließlich das Finale in der tiefsten Etage, Blut, Hackebeil und abgetrennte Körperteile. Schrei, wenn du kannst!

Was folgere ich aus diesem Erleben? Ich hab' es ja durchaus genossen, doch gerade dieser wohl inszenierte Genuss aus aufeinanderfolgenden Erregungszuständen, die sämtlich nichts mit meinem eigenen Leben zu tun haben, erscheint mir heute seltsam, völlig absurd! Die Fallhöhe war groß, deshalb ist es mir aufgefallen. Der Zustand, in dem ich mich zu Anfang befunden hatte, war soviel besser, klarer, freier, ruhiger und auch irgendwie spannend gewesen - warum also lasse ich mich in Filme fallen, die mich erfolgreich "runter ziehen" bis in die niedersten Regionen, wo es nur noch um Hauen & Stechen, Fressen und Gefressen-Werden geht? Hätte ich nicht vielleicht von meinem Ausgangszustand aus die andere Richtung einschlagen können?

Tja, aber dafür gibt es kein Programm! Da bin ich alleine auf mich selbst gestellt und kann jeden Moment die Wachheit verlieren, diese ganz spezielle Aufmerksamkeit, in der ich mich befand, als mir der "Geschmack des Daseins" als das Wunder schlechthin erschien.

Der Fernsehschlaf liegt da unendlich viel näher. Trägheit und Routine, Programm und Fernbedienung, wohl bekannte Erregungszustände in verlässlicher Reihenfolge - was will der Mensch mehr?

Und nicht nur das: Mir wird immer bewusster, in was für eine Verdammnis wir uns gesamtgesellschaftlich mehr und mehr hinein entwickeln, die solche "Ersatzprogramme" fürs Gefühlsleben erst nötig macht: Von früh bis spät sind wir gefordert, allein aus dem Verstand zu leben, rundum gut informiert den Kampf ums Dasein zu führen. Immer zweckvoll und zielgerichtet handeln, Regeln und Gebrauchanweisungen beherrschen, alles im Griff haben und dabei hochkreativ sein. Wissen, was überall in der Welt vorgeht, zu allem eine Meinung haben. Immer die Chance und die Lücke nicht verpassen, in der man morgen noch Geld verdienen wird, allerlei Papierkriege führen, immer rechtzeitig alles Nötige updaten und natürlich regelmäßig Daten sichern. Zusatzstoffe in der Nahrung kennen, sich um Gesundheit und Fitness kümmern, aus allen Angeboten immer das günstigste auswählen - ganztags sind wir ins "Um-Zu" gekettet und niemand fragt: wozu eigentlich all dieser immer weiter wachsende mentale Aufwand? Wo findet das "richtige Leben" statt, für dessen Erhalt und Verbesserung die Großhirnrinde angeblich stets im Einsatz ist? Im Urlaub? Im Schlaf? Im Samstag-Abend-Rausch?

Weil das nicht reicht, gibts das Fernsehen, gibts Filme und Entertainment bis zum Abwinken. In den Lücken, den noch freien Zeiten, lassen wir uns so ein bisschen die Psyche massieren - einmal durchs halbe Spektrum, von der Mitte bis ganz unten.

Ich werde vermutlich nicht die Disziplin aufbringen, "nur die Nachrichten" und gelegentlich "gute Filme" anzusehen. Wenn ich etwas ändern will, muss ich mich vom Gerät wieder trennen.

Soll ich? Will ich?

Da fällt mir ein, diese Woche gibt's jeden Abend auf 3-Sat eine Sendung über je einen Philosophen - Bloch, Heidegger, Adorno etc. Die wollte ich mir eigentlich angucken.

Na ja, schau'n wir mal...

Claudia Klinger, 10.02.2004

Zwei Augen schauen dich an
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