Claudia am 25. November 2013 —

Was, wenn alle Fotos auf einmal weg sind?

Thinkabout ist ein großes Malheur passiert: Beim Versuch einer Datensicherung hat er versehentlich die Festplatte formatiert, effektiv formatiert, nicht nur die Schnellversion. Alle Fotos aus vielen Urlauben während mehrerer Jahre sind weg – welch ein Verlust!

Wie würde es mir damit gehen? Meine Haltung zu den Ergebnissen kreativer Tätigkeiten ist widersprüchlich. Einerseits hab‘ ich mich irgendwann mal entschieden, mich von jeder Menge solcher Dinge zu trennen. Motiviert durch diverse Umzüge in jüngeren Jahren und der Tatsache, dass ich all das alte Zeug sowieso nie zweimal betrachtete, trennte ich mich von ganzen Schubladen voller Fotos, inkl. der „Negative“, die man in den Zeiten der Foto-Chemie noch massenweise hortete. Bilder und Dokumente mit historischem Wert (die z.B. bürgerschaftliches Engagement dokumentierten) gab ich bei einem Stadtteilhistoriker ab, der große Rest landete im Müll. Darunter auch eigene „Werke“ wie etwa die in vielen Schreibgruppen und Kursen verfassten Texte und Gedichte, Schulhefte und Hausarbeiten aus Uni-Zeiten, allerlei Projekt-Reader und kreative Ergebnisse diverser Engagements, Plakate, Flyer, in Volkshochschulkursen enstandene Zeichnungen, sowie sämtliche alten Liebesbriefe und sonstigen sentimentalen Andenken – alles musste raus!

Wer bin ich – ohne all das Zeug?

Ich fühlte mich gut dabei, war es doch ein bewusstes Statement gegen die Selbstidentifikation mittels Alt-Materialien: Wer bin ich, wenn alle Dokumentationen bisherigen Schaffens nicht mehr existieren? Muss ich Erinnerungen unbedingt festhalten, bzw. die Chance, mich zu erinnern, in Gestalt all dieser Dinge lebenslang horten? Wenn ich vergesse, dann soll das halt so sein! Warum zwanghaft festhalten, was war, auch wenn es lange schon vorbei ist? Was wirklich WICHTIG war, hat mich geprägt und ist zum Teil meiner Selbst geworden, auch wenn ich mich an Details nicht mehr erinne. Also weg damit, das Umziehen wurde dadurch auch sehr viel einfacher!

Was ich mit der Aktion „Hau-weg-den-Kram“ auch vermeiden wollte: eine alte Dame zu werden, die nurmehr in Erinnerungen schwelgt und jeden noch nahe stehenden Menschen mit Foto-Alben und „Geschichten von früher“ nervt. Die Vernichtung der Materialien sollte mich gar nicht erst in Versuchung kommen lassen, den „Blick zurück“ zur Freizeitbeschäftigung zu machen – und das hat ja bis heute immerhin geklappt.

Aber….

…ganz 100%ig hab‘ ich die „große Entsorgung“ nicht durchgezogen: ein einziges Fotoalbum mit Bildern aus der Zeit zwischen 19 und 29 hab‘ ich behalten, darin auch einen Umschlag mit unsortierten Fotos aus der Kindheit. Und vor ein paar Jahren hab ich einen Stapel Super-8-Filme meines verstorbenen Vaters „übernommen“ – mit der Idee, die irgendwann digitalisieren zu lassen und die alten Familienurlaubsfilme (Italien 62 bis 71!) nochmal anzuschauen. Vermutlich sind sie aber gar nicht mehr gut genug erhalten. Ich weiß es nicht, konnte mir das bisher auch einfach nicht leisten, bzw. meine Prioritäten beim Geld ausgeben sind definitiv andere.

Und noch etwas ist passiert, mit dem ich so nicht gerechnet hatte, was aber mein ganzes „Materialien-Regime“ wieder in Richtung „horten“ verändert hat: Seit ich einen PC besitze (ca. 1992) ist auf der Festplatte immer genug Platz! Kein Grund mehr, irgend etwas als Ballast zu empfinden und zu löschen. Dort kann ich also bei Bedarf „in alte Zeiten abtauchen“ und mir Texte und Webwerke aus den Kindertagen des Netzes anschauen (etliche davon sind auch online archiviert). Das Fotografieren hatte ich in jungen Jahren aufgegeben, doch sobald es erschwingliche digitale Kameras gab, war ich wieder dabei. Weniger, um Urlaube (die ich sowieso nur selten mache) zu dokumentieren, sondern um meine Umwelt abzubilden: seit 2006 sammeln sich so etwa zigtausende Fotos vom ersten und zweiten Garten. Und es täte mir verdammt leid, wenn die auf einmal alle weg wären!

ALLE wären immerhin nicht verloren, denn es gibt das wilde Gartenblog und diverse Speicher bei Flickr Google+ und Pinterest, wo so manches gelandet ist. Und auch mein Freund und Gartengefährte macht ja Fotos vom Garten…

So bin ich im vorgerückten Alter wieder milder geworden, was die Haltung zum Horten von Erinnerungsartefakten angeht. :-) Und fühle mit Thinkabout die Härte so eines Vollverlusts!

Vom Buch, das die Welt verpasst hat

Die Entsorgung der alten Sachen hab‘ ich übrigens nie bedauert – bis auf das eine Mal Anfang DIESES Monats, als sich rund um meinen Artikel „Wenn SIE nicht MEHR will – zur Tragik im Geschlechterkampft“ eine intensive Diskussion entwickelte. Da hätte ich das mit 26 Jahren verfasste Pamphlet „Frauen anmachen, aber richtig!“ doch gerne zur Hand gehabt, um zu schauen, was mir damals zu dieser so zeitlos brisanten Frage in die (noch mechanischen) Tasten floss. Ich war gerade nach Berlin gezogen und las oft die Kleinanzeigen der Stadtteilmagazine, insbesondere die vielen Partnersuchanzeigen. Zwar suchte ich nicht, sondern war mit Partner gekommen, doch erschien mir dieser Markt als tolles Umfeld, um so eine Schrift mit Erfolg zu vertreiben. Der Text wurde sogar fertig, doch scheiterte es damals noch an der Möglichkeit, ein „ordentliches Buch“ draus zu machen, ohne erst einen Verlag finden zu müssen. Selber drucken lassen war noch viel zu teuer.

So blieb meine „Botschaft an die Männerwelt“ in der Schublade. Ich fand sie vergleichsweise spät wieder und hätte sie behalten, wenn ich den Text gut gefunden hätte. Doch er langweilte mich beim Anlesen, also dachte ich nicht lange nach und klopfte ihn ebenfalls in die Tonne.

Vermutlich hat die Welt dadurch keinen großen Verlust erlitten! :-)

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Diskussion

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29 Kommentare zu „Was, wenn alle Fotos auf einmal weg sind?“.

  1. Ich weiß nicht, ob es zu eitel falsch ist, wenn ich behaupte, daß ich kein hämischer Mensch bin. Und gerade, als ich bei Dir das von Thinkabout las, hab ich mich richtig mitfühlend erschrocken. Aber bei fast jedem anderen, der oder die in den letzten Monaten immer öfters zu mir kommen und von einem totalem Fotoverlust reden, neige ich zu einem lässigen: „siehste“-Schulterzucken. Ich selber versuche möglichst nie übe Computer beim Smaltalk zu reden, aber WENN andere mich einmal dahin bringen, habe ich immer wieder die wohnungsexterne Datensicherung von Fotos angesprochen. Und immer war die Gesprächslust meiner Gegenüber dann beendet. Da hält sich, vom heutigen Tag abgesehen, mein Mitleid immer in Grenzen. Naja, zumindest die ersten 10 Sekunden.

    Ich selber fotografiere seit 1999 digital, sehr sehr lange nur reine Erinnerungsfotos, und wir schauen die uns immer wieder einmal themenbezogen zusammen gesucht an. Mal alte Urlaube, mal aus dem Vereinsleben, sehr oft alte Kinderfotos. Diesen persönlichen Familienschatz würde ich nicht missen wollen. Das wir dabei vielleicht nur gerade 5 bis 10% aller gemachter Fotos so noch mal nach oben ziehen ist ja wurscht. Die anderen essen ja kein Brot weg.

  2. @Chräcker: als ich noch in meiner Herkunftsfamilie lebte, gab es auch diese Erinnerungsabende mit Ansehen der Filme vom Urlaub – die Foto-Alben fanden schon damals nicht so viel Interesse.

    Meine Eltern sind mittlerweile tot, schon mit 26 hab ich die Stadt, in der ich aufwuchs verlassen und nurmehr an Weihnachten besucht. Eine eigene Familien hab ich nie gegründet. Da fehlt dann jeder Anlass und Adressat zum „gemeinsam anschauen“ – bzw. es gibt noch genau einen: alte Zustände des Gartens durch die fotografische Dokumentation erinnern können. Das ist manchmal wichtig für die Entscheidung, was nächstens gepflanzt wird.

    Klingt unsentimental, doch ist es ja genau dieses „sentimentale Erinnern“, das ich eigentlich nicht mag. Damit stärkt man – so mein Empfinden – das Bedauern über die Vergänglichkeit alles Schönen. Findet sich womöglich bald als alter Mensch wieder, der fortwährend lamentiert, dass früher alles besser war.. :-)

  3. Das liegt dann ja an einem, daß zu verhindern. Ich denke immer: schau mal den Weg, den wir gegangen sind, und wo wir jetzt (hier „als Familie“) stehen und was noch alles kommen mag, huiii… Und genau so reagieren auch unsere Kinder beim gelegentlichen schauen. Wir sind heute eben nicht nur „das Jetzt und das noch Mögliche“ sondern auch die Summe des Vergangem noch dazu. (und wie…)- Da blättern wir hier gerne ab und an noch mal durch. (Was jetzt alles kein „richtig oder falsch“ bedeuten soll, nur erzählen, wie wir das (anders) machen.)

  4. Liebe Clauda, das Foto an sich, als Objekt, ist ja immer das selbe. Sie können aber verschieden betrachtet werden. Auch Erinnerungen mischen sich ja immer mit Gefühlen.

    Fotos zu betrachten, kann einem selbst Freude schenken, wenn sie Erinnerungen an schöne Momente wiederbringen. Es gibt nur wenig Möglichkeiten, sich selbst hin und wieder in dieser einfachen Art mit Freude zu beschenken.

    Oder auch, als wir vor kurzem einige Wochen unterwegs waren, jeden Tag mit so vielen neuen Eindrücken – unmöglich, diese alle im Hirn zu speichern. Nach vier Wochen musste ich schon scharf überlegen, wo waren wir vorgestern. Von dieser Fülle an Eindrücken ginge mir vieles verloren. Jetzt, wo ich gerade dabei bin die Fotos zu sortieren, bin ich manchmal erstaunt, was wir alles gesehen und erlebt haben.

    Aber auch das sentimentale meine ich, darf ruhig sein.

    Doch was will man machen? Weg ist weg. Mit der Zeit wächst Gras drüber. Ich dachte, als ich das bei Thinkabout las, vielleicht eine willkommene Chance, die Reise nochmals zu machen.

  5. Chräcker hat recht: Vor allem andern steht die Umsicht, und so kann man immer sagen: wäre Dir die Sache unvorstellbar wichtig gewesen, hättest Du andere Vorkehrungen getroffen…
    Hätte, wäre, wenn…

    Ich möchte hier auf andere Aspekte eingehen: Es geht bei mir nicht zuletzt auch um Alltagsfotos, um Entwicklungsschritte bei der Art, Dinge zu sehen. Erinnerungsbildchen von Reisen sind eine Gedächtnisstütze, das ist richtig. Aber die Erinnerung hängt sich dann auch an Bildern auf und verliert dafür andere Episoden, die daneben stattfanden. Gegen das Vergessen hilft nicht viel, und Selbstüberlistung ist immer dabei. Ganz wesentlich aber scheint mir etwas anderes:

    Beim Betrachten von Fotos erinnere ich ein Gefühl, das mich beim Anblick einer Landschaft ergriff, ich erinnere mich an, z.B. die Dankbarkeit, gerade jetzt genau da zu sein. Es sind die Glücksmomente des Reisens, die im Bild für Dritte vielleicht gar nicht zu sehen sind.

  6. ich gestehe: ich kann den ersten artikel, den ich für die internatszeitung „die brücke“ ca 1972 nach dem besuch einer fabrik noch ganz von wallraff beseelt verfasste, mit einem griff aus dem regal ziehen …

    und ich hätte auch so meine schwierigkeiten, etwa den handgebundenen schinken, in dem ich alte stern kochrezepte oder den „tip“-band aus den frühen 80ern, auch in mühseeliger kleinstarbeit selbst gebunden, einfach so wegzuwerfen.

    sorry, aber das bin „ich“, das archiv.

    es hat mich einiges an innerem widerstand gekostet, ein paar hundert videobändern wegzuwerfen, aber da hat sich das aufbewahren nicht gelohnt, wenn die filme (eherr dokus) in besserer, digitaler qualität zu haben sind …

    aber die je 100 bänder mit hörspielen oder rockfeatures bleiben so lange erhalten, bis ich sie digitalisiert habe. eine kiste voller kassetten mit nachrichten als den späten 80ern, frühen 90ern auch.

    das wesen einer bibliothek oder eines archivs ist ja nicht, daß man alle bücher noch mal liest. eher, daß man jederzeit das, was man gerade sucht, aus dem regal greifen kann.

    aber zu den photos: mmaw photografiert eine menge, hatte eine ähnlche situation … und bekam einen großen teil ihrer bilder wieder: so lange die festplatte nicht mit leerzeichen wirklich „geblankt“ wurde, existieren die weiter und es gibt software mit der man die mit einem gewissen quantum an nacharbeiten zum großteil wieder herstellen kann.

    es sei denn, wie gsagt, die festplatte wurde wirklich komplett mit was auch immer neu gefüllt.

  7. @Thinkabout, vieles, was im Urlaub gut tut, lässt sich garnicht auf Fotos abbilden. Z.b. eine sehr langezogene Outdoor-Restaurant-und Cafezeile, die man von der Seite aufnehmen will/muß. Das Auge nimmt die Einzelheiten wahr, das schöne Leben des Draussensitzens, in einer endlos erscheinenden Kette. Fotografisch schwer, muß man halt eine kleine Reihe dieser Cafes fürs Foto rausgreifen und sich beim Betrachten des Fotos erinnern, daß es eine lange, schöne Kette war, die sich einer gewundenen Straße hochbewegte, vom Strand weg…und das alles bei wunderbarer Luft und beglückendem Sonnenschein.

  8. Gerhard, da fallen mir gerade die Dia-Abende von früher ein. Ich weiß nicht, wer die auch noch kennt. Diese gelangweilten Gesichter der Zuschauer, die alle nur hungrig darauf warten, wann das Fondue endlich losgeht und die garnichts mit diesen ach so wunderbaren DIA´s anfangen können. Und dann, wenn der Dia-Vorführer in lautes Gelächter ausbricht: “ Ha, ha, man, weißt du noch, das war doch als Peter in die Hundekake getreten ist, man, was wir gelacht, der Ääärmste…och…“
    Verständnislose Blicke der Umhersitzenden.

    Meine Laienfotos sind ja wirklich nur ein Momentausschnitt, zu welchem die anderen Momente, Gerüche, Farben, Geräusche u.s.w. fehlen. Wie du es schon beschreibst. Wenn wir unsere eigenen Fotos betrachten, ist das alles wieder sofort präsent.

    Wobei es ja auch Fotos gibt, von richtigen Meistern, da ist der Moment „Alles“.

  9. Wobei ich, Thinkabout, eher nicht meinte „war dann also auch nicht wichtig“ sondern eher ein eitles: „warum glaubte mir denn wieder Keiner“ ;-)

    Zu den Erinnerungen: das ist in der Tat für mich immer eine wichtige Frage gewesen, die man aber, so finde ich, nur mit sich selber klären kann. In wie weit verfälschen Fotos auch Erinnerungen. Zum einem die Dinge, die man nicht fotografiert hat, aber auch bei den Dingen, DIE man fotografiert hat. Ich hab dazu immer die frei erfundene Beispielgeschichte von dem rothaarigem Mädchen aus der Grundschulzeit, mit dem knall grünen Pullover, die schon alleine durch diesen Kontrast einem einerseits in den Augen weh tat, aber durch ihre schönen roten vollen Haare einem immer wieder den Sonnenschein brachte. Also eine ganz intime intensive verkapselte wahre liebe tiefe Erinnerung. – Und jetzt find ich ein Foto, und da sehe ich: die waren ja eher blond als rot und so grün waren die Pullover auch nicht und überhaubt… – die wahre Erinnerung, nicht mal verklärte, sondern als Grundschulkind so erlebte und aufbewahrte „wow“-Erinnerung wird durchs Foto „korigiert“. Fotos können also richtige Klugscheisser sein. ;-) (Was hingegen ja wieder zu mir passt… *hust*)

  10. @Menachem, so ein Diaabend kann ganz wunderbar sein. Wir wurden unlängst zu so einem eingeladen. Es waren Dias von einem Trip in den USA, wobei gerade manche persönliche Begegnungen dort das Salz in der Suppe waren. Man muß halt aufgeschlossen sein.

  11. Danke Hardy für die Aufmunterung. Wir werden sehen!
    Die unbearbeiteten Fotos der Norwegen-Reise habe ich auf einem ausrangierten Notebook wieder gefunden. Immerhin diese Fotos, unbearbeitet, sind schon mal wieder Fundus meiner Freude.
    Und diagnostizieren lasse ich das Laufwerk wohl auch.

  12. thinkbout

    essentiell ist, daß du jetzt nichts auf die platte kopierst. die sachen sind alle noch da, es wurde nur das „register“ zerstört, aber von diesem index liegen, ohne daß du mit bordmitteln dran kommst, noch kopieen auf der platte. lass sie einfach liegen, ich habe mmaw, die gerade schläft, gebeten, mir noch mal das programm (freeware) zu nennen, mit dem sie das hinbekommen hat. am ende liegen dann dateien mit automatischem namen herum, die du umbenennen musst.

  13. Interessant, das alles! Und hier hoffentlich überflüssig, nochmal zu sagen, dass es da nie um ein „richtig“ gehen kann, sondern um den Austausch unterschiedlicher Herangehensweisen. Was ich sehr spannend finde!

    Denn mittels dieser – vermeintlich nicht sonderlich bedeutenden – Gewohnheiten und Umgangsweisen mit dem „Horten“ von Vergangenem kann man den kommentierenden Mitmensch besser erkennen. Bis in philosophische Grundhaltungen hinein. Und damit auch wieder sich selbst.

    So ist Hardy z.B. genau mein Antipode, wenn er schreibt:

    „das bin “ich”, das archiv.“

    Wogegen ich durch meine „Vernichtungsaktionen“ ein starkes Signal im Sinne von „Ich bin hierjetzt und will das auch bleiben“ setzen wollte. Mit einigem Erfolg, denn mein Leben ist fortwährend dermaßen VOLL mit „Aktuellem“, das ich zum Material-gestützten Blick zurück gar nicht käme, selbst wenn ich wollte.

    Wenn ich dann weiter darüber nachsinne, warum ich ein leicht gespanntes Verhältnis zum Sammeln und Aufheben von Bildern und anderem habe, kann ich feststellen: es liegt wohl am Skandal der Vergänglichkeit, an der Tatsache, dass wir unser Leben in den Treibsand schreiben, egal wieviel Erinnerungsmaterial wir sammeln und pflegen. Damit wollte ich mich so wenig wie möglich konfrontieren, so nach dem Motto: wenn eh alles vorbei geht und nie wieder kommt, dann will ich das wenigstens nicht auch noch zelebrieren und mich immer wieder damit konfrontieren.

    Erinnerungen und Fotos: Was ist denn nun „die Wahrheit“ – das, was wir erinnern oder das, was ein Foto zeigt?

    Diese Frage wirft Cräcker mit der Geschichte vom rothaarigen Mädchen eindrücklich auf. Aber: warum sollte das Foto eine „wahrere Wahrheit“ zeigen? Darüber hat z.B. Flusser viel philosophiert, doch auch ohne da sehr tief zu schürfen können wir bemerken, dass diese „Anmutung größerer Wahrheit“ dem Foto gar nicht immer zukommt.

    Kann es nicht sein, dass das Foto VERBLASST ist, wie es den Chemie-Fotos ja im Lauf der Zeit oft erging? Oder es kann die Lichtsituation dazu geführt haben, dass die Farben „flau“ und nicht so prägnant leuchtend rüber kamen, wie wir sie erinnern.

    Ob die Erinnerung oder das Foto näher dran an der Wahrheit ist, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit feststellen. Und überhaupt: die Idee einer objektiven Wahrheit wurde ja schon vielfach dekonstruiert! Eine „menschlichere Wahrheit“ ist für mich jedenfalls das, was Cräcker erinnert hat, denn diese hat BEDEUTUNG über bloßes Dokumentieren hinaus.

    @Menachem: genau, diese langweiligen Dia-Abende – hab ich meistenteils gemieden! Sie sind üblicherweise nur für jene spannend, die dabei waren – es sei denn, die Darbietung erreicht professionelle Standards und vermittelt z.B. Eindrücke eines Landes wie ein guter Film.

    Mein Jugend-Foto-Album hab ich meinem Liebsten dann aber doch mal gezeigt :-) – aber erst, als wir schon ca. 2 Jahre zusammen waren…

  14. [..] antipode

    deshalb habe ich es ja erzählt ;-)

    ich bin mir ja darüber bewusst, daß es diese einstellung gibt, dinge wegzuwerfen, und daß die mit „im hier und jetzt“ begründet wird. das ist eine entscheidung, die jeder für sich selbst trifft und beide haltungen sind okay.

    aber – um einem mißverständnis vorzubeugen, zwei kleine ausschweifungen. die eine betrifft meinen großvater sylvester. in den 80ern entdeckte ich eine kleine grüne kladde, in der er heimatgeschichten notiert hatte, übertrug sie auf den ersten rechner mit einem dosähnlichen betriebsystem und war dann so blöd, das ergebnis meinem alten herren in die hand zu drücken. er hat ein buch draus gemacht … natürlich ohne meine arbeit auch nur zu erwähnen.

    für mich war das hochinteressant: der mann war mitglied, ortsgruppenvorsitzender der csv (vitus heller bewegung, christliche gewerkschafter), einer der wenigen parteien, die 33 bei der saar abstimmung gegen hitler aktiv waren und die kleine kladde war sein vermächtnis. hat er g*ttseidank nicht weggeworfen. ich wüsste sonst kaum etwas über ihn und das, was ich in einem der wenigen bücher über den christlichen widerstand gegen die nazis, in der eine szene vor seinem haus geschildert wird, als die dorfgemeinde eine strohpuppe verbrannte und im januar totensonntagslieder sang, das einzige was ich von ihm weiss: mein papa hat es mir jedenfalls nicht erzählt.

    in dem sinne hüte ich alle meine emails von 1992 ab, in meinem archiv befinden sich lange diskussionsstränge des früheren compuserve spiegel forums etc etc. ich bin ein hamster und mir dessen bewusst. die post mit den vorträgen von leary & wilson, die du „damals“ populrisiert hast, hätte ich nicht machen können, wenn hinter meinem rücken kein regal existieren würde, in dem es vor aufgehobenen zeitungen nur so wimmelt.

    auf der anderen seite mache ich keine photos, weil man das, was in ihnen stecken soll, eh tatsächlich nicht festhalten kann. aber wie gesagt, ich sitze auf einem archiv, das es mir erlaubt, noch mal die nachrichtenlage vom gladbecker drama oder den fall der mauer nachzuhören … und, naja, ich tue so was tatsächlich.

    meine hörspielsammlung, mein features-archiv, mein musik- und comic-sammlung borden über, ich habe noch keines der scifi-taschenbücher, die ich in den 70er, 80ern gekauft habe, weggeworfen. das alles stellt keinen „wert“ da, aber ehrlich: ich sitze lieber in einem zimmer voller bücher als in einem kahlen raum. ich liebe büchereien und archive, ich bin zudem ein schrecklicher bürokrat und habe mir software geschrieben, nur um den überblick nicht zu verlieren.

    es gibt „bei mir zuhause“ auch ein formblatt, das ich in den 70ern entworfen und ein paar hundert mal kopiert habe, um für jede aufgenommene kassette ein blatt durch die schreibmaschine zu jagen … 10 jahre später wusste ich, was mir das sagen wollte: du bist zum programmierer geboren und das alles war nur ne fingerübung ;-)

    für mich ist das, um mal deine vorstellung von „im hier und jetzt“ ein bißchen zu kontern „roots“, wurzeln, die mir sagen: da komme ich her, das bin ich, meine „geschichte“.

    für was das nützlich ist, weiss ich nicht, aber das hat sylvester auch nicht gewusst. vielleicht hat er gehofft, daß ihn mal jemand versteht und vielleicht tue ich es aus dem selben grund ;-)

  15. [..] hier? jetzt? [..]

    weil mir der rahmen eines kommentars hier ein bißchen zu eng ist, eine kleine abschweifung über alte zöpfe in einer veränderten welt ;-)

  16. Gerade, Claudia, weil wir auf den Treibsand bauen, finde ich eine gute Erinnerungskultur persönlich für sehr wichtig. Das müssen freilich nicht unbedingt (nur) Fotos sein. Aber seine Geschichte kennen und sich immer mal wieder vergegenwärtigen, halte ich für eine wichtige Eigenart der Menschen im Streben nach einer Zivilisation. Ob das nun die wieder und wieder erzählten und weiteregebenen Geschichten am Lagerfeuer durch den Dorfwaisen sind, oder durch einen, wie auch immer definierten, guten Geschichtsunterricht einer modernen Schule… und im privaten zählt für mich das Erinnern an seine eigene Vergangenheit auch dazu. Und ich gebe zu, daß ich auch deswegen Kinder bekommen habe, um mich in ihnen etwas in die Zukunft zu bringen und Erinnerunge per Genweitergabe zu transportieren. Was, freilich, auch arg vermessen und eitel ist. Das hab ich dann veersucht mit Sorgfalt in der Aufzucht wett zu machen. ;-) – Alles Versuche, mit Geschichte(N), also Erinnerungen, den Treibsand wenigstens zeitweilig etwas zu verfestigen. – Und Erinnern muß man trainieren und immer wieder üben. Mir helfen da visuelle Spickzettel, also Fotos, sehr. Aber auch anhören von eben Geschichten. Und Fragen und Neugierde natürlich. Aber Erinnerungsdinge gehören für mich definitiv dazu. Alles zwichen erhaltenen kulturellen Stätten bis hin zu profanen Familienfotos.

  17. @chräcker

    während ich noch bibbere, ob es mir im dritten anlauf gelingt, eine kleine visuelle diashow hochzuladen, um zwei, drei kleine „grenzüberschreitungen“ zu begehen:

    [..] Was, freilich, auch arg vermessen und eitel ist.

    wir müssen im grunde verdammt aufpassen, daß wir uns als individuen nicht zu klein zu machen.

    was ist schon „eitel“? oder gar „vermessen“?

    da wirkt eine christliche indoktrination in uns nach, die im grunde nur dazu dient, daß wir nicht „bei uns selbst“ amkommen. ständig müssen wir uns ducken, versuchen windschnittig in der menge aufzugehen, trauen uns nicht zu sagen: hier stehe ich, ich kann und will nicht anders.

    als ob es „da draussen“ so etwas wie einen g*tt gäbe, der über unser leben richtet und unter paragraf xyz eine messlatte hat, wann wir vermessen oder eitel waren, alles notiert und uns das vorhält, wenn wir mal „das zeitliche segnen“ …

    das mit den kindern ist ein sehr guter einwurf.

    wir sind ja auch so etwas wie der memoryspeicher unserer kids, wir horten ihre geschichten mit. meine älteste ist bis heute sauer, daß ich mal in einer wirklich üblen situation einen hefter verbrannt habe, der die dinge enthielt, die ich bis dahin für sie gehütet hatte, bis auf die fünf seiten, auf denen ich ihre geburt festgehalten habe.

    meine kritik an diesem „im hier und jetzt“ geht aber noch weiter, als du sie formulierst. in – wenn alles gut geht – etwa einer stunde sollte mein video online und meine post überarbeitet sein. ich hoffe doch, daß sie ein bißchen meinen zweifel an der gültigkeit des „paradigmas“ belegt oder daran, daß man einen moment nicht festhalten kann.

    ob das „eitelkeit“ ist, wage ich zu bezweifeln, ich werde die hosen runterlassen, bin ständig unrasiert und verwildert, alleinerziehender papa von drei kids für zwei jahre.

    aber ich denke, man sieht auch als unbeteiligter, daß man sehr wohl etwas _festhalten_ kann und es auch sollte ;-)

  18. Hab mir grade Hardys engagiertes Posting „hier? jetzt?“ durchgelesen und finde es gut und stimmig.

    Meine Antwort auf den Beitrag und auf

    „aber ich denke, man sieht auch als unbeteiligter, daß man sehr wohl etwas _festhalten_ kann und es auch sollte ;-)“

    poste ich nun auch hier, jedenfalls den autobiografischen Part:

    Ich stimme dir weitgehend zu, obwohl ich selbst eine „Wegwerferin“ war und in Maßen noch bin. Es ist ja nicht so (bei mir wenigstens nicht), dass man mal einen Satz hört und sich fortan danach richtet [= „ganz entspannt im Hier und Jetzt“ – Osho]. Anders als du konnte ich nie nie Ordnung in Altmaterialien halten, sie waren unzugänglich gestapelt und mein Verlangen danach, sie zu ordnen, ging immer gegen null. Weil es einfach in der jeweiligen Gegenwart so viel Spannenderes gab! (Nein, ich hatte nie ein „normales Arbeitsleben“, das neben sich ordentliche Hobbys duldet, bzw. sogar erfordert, damit man nicht vor Langeweile früh ablebt…).

    Dazu kamen die Umzüge, ab 27 nicht mehr „ganz normale Umzüge“, sondern binnen weniger Jahre mehrere, so von einem besetzten Haus ins andere. Da wird man es irgendwann müde, alle erdenklichen Materialien mitzuschleppen – auch meine „Bücherwand“ musste dran glauben und seitdem hab ich 4 x 80 cm Bücherregal, wenns mehr wird, wird ausgemistet und weiter verschenkt.

    Ein weiterer Impuls Richtung hau-weg-den-Scheiß waren meine alten Verwandten, Oma, Opa, Großtante und so. Wie ich mich ohne Ende langweilte, wenn sie von „damals“ erzählten! Ich sollte Teewurst essen, weil „wir damals im Krieg froh gewesen wären, sowas zu bekommen“. Und ich (das schreckliche Zeugs im Mund vom Wohnzimmer zur Toilette transportierend) bestand auf hier-jetzt: „Hey, der Krieg ist aber doch vorbei!“ Erfolglos…

    Nein, SO wollte ich keinesfalls werden!

    ***

    und ergänzend: im Grunde betreibe ich heute eine dem Vergessen deutlich entgegen gesetzte „Erinnerungskultur“.

    Dies hier ist nämlich das zweitälteste deutschsprachige Webdiary, es reicht bis 1999 zurück. Auch die Vorgänger (HumanVoices, Missing Link) sind öffentlich archiviert und irgendwann werde ich auch die alten Postings (99 bis 2003) ins WordPress-Script übernehmen (die neueren hab ich tatsächlich schon „umgesetzt“ bzw. aus der Vorgängertechnik befreit) und mir dann ein Script programmieren lassen, das auf Mausklick wahlweise Postings „vor 1, vor 5, vor 10, vor 15 Jahren“ anzeigt.

    Da der Fokus hier weniger auf dem persönlichen Alltag liegt, sondern mehr das vorkommt, was mich bezüglich der Welt so bewegt, ist es auch „Geschichtsschreibung in der ersten Person“ – und ich bin guter Dinge, das bis kurz vor dem Ableben so weiter zu betreiben. Zum „Ordnungsvorhaben“ gehört auch, die Themen besser zu erschließen – die Kategorien wie sie jetzt sind, sind viel zu allgemein und zu langweilig. Evtl. werde ich alles „taggen“, also nach Stichworten durchsuchbar machen.

    Schaue ich nun aber selber mal alte Artikel an (was eher selten vorkommt) mutet mich das seltsam an. Manchmal ist es, als würde eine Andere schreiben, manchmal denke ich mit Schrecken: Ich verändere mich ja gar nicht, wie furchtbar! :-)

    @Cräcker: verstehe dich! Meine Bezugsgruppe ist eben keine Familie, ich muss auf andere Art versuchen, mich ins Gedächtnis der Menschheit einzuschreiben.. :-))

    Im Grunde mache ich das mit jedem Posting hier. Anders als bei vielen Anderen hat dieses Blog Bestand – und das wird auch so bleiben bis es eines Tages in irgend einem historischen Archiv landet.

    Alles fließt….

  19. @Claudia, Du schreibst bzgl. alter Artikel: „Ich verändere mich ja gar nicht, wie furchtbar! :-)“. Das ist ein interessanter Gedanke! Es soll also mit einem stetig voran gehen, sonst ist es nichts!
    Ich kenne diese Ansicht von mir selbst nur zu gut. Aber ist so ein Vorwärtsmaschieren zwingend nötig, um sich gut zu fühlen? Mittlerweile scheine ich einen „Stillstand“ sogar ganz normal zu finden. Einige Änderungen werden kommen, aber mehr oder weniger beiläufig zu unbestimmbaren Zeitpunkten oder aufgrund von Katastrophen. Ansonsten ist man die Person mit den und den Meinungen und Ansichten.

  20. @Gerhard: Ist „vorwärts“ dasselbe wie „anders“? Nicht unbedingt… die eigenen Meinungen ändern sich aus meiner Sicht mit dem Erleben anderer „Standpunkte“. Wenn sich im Leben nichts mehr verändert, sondern alles in allem die Dinge über lange Zeit so bleiben, wie sie sind, hat das doch ein bisschen was Erschreckendes.

    Aus dem Kopf kann man das allerdings nicht ändern, es ergibt sich „beiläufig“ oder eben nicht.

    Nach vielen „gleichförmigen“ Jahren tritt bei mir nun tatsächlich eine Veränderung ein. Was ich als „gebranntes Kind“ lange scheute, wächst mir derzeit quasi anstrengungslos zu….

    Aber dazu bald mehr! Auch Veränderungen wollen „bearbeitet“ sein – und da mache ich mich jetzt dran! :-)

  21. Spannend, wohin ein Mißgeschick doch die Gedanken führen kann, daher hier ein paar von mir zum Thema ‚Wer bin ich – ohne all das Zeug?‘:

    Für mich ist das Spannende an Dingen aus der Vergangenheit (Fotos, Bücher, Möbel, Kleidung, Puppen, Spielzeug, Gebrauchsgegenstände usw., die über den Tag hinaus aufgehoben wurden und werden) weniger, daß sie Krücken einer Erinnerung sein können, mit deren Hilfe ich an einem durch sie induzierten Selbst bastele. Das kommt sicherlich vor, ich halte solche Selbsterfindungen aber für mindestens wenig tragfähig und sehe in ihnen eher eine Pein für andere Menschen, die zu Zeugen oder gar zu unfreiwilligen Claqueuren solcher Handlungen werden. Ebenso wenig möchte ich erinnerungshaltige Dinge als emotionale Suchtmittel mißbrauchen, mit deren Hilfe ich mich in Gefühlszustände der Wehmut, Melancholie oder gar des Weltschmerzes versetzen kann (oder will). Das passiert natürlich ebenfalls hin und wieder, aber um an der Welt zu leiden gibt es bessere Mittel (TV, Blogs, Zeitungen), und Melancholie oder Wehmut machen eigentlich nur richtig Spaß zu zweit.

    In diesem Sinne wären solche Dinge größtenteils entbehrlich und höchstens aus ökologischen Gründen aufzubewahren. Ich halte aber Dinge aus einem anderen Grund für Momente meines Selbst: ich bin nämlich überzeugt, nicht identisch zu sein mit dem, was sich mein Geist/Verstand über mich alles so zusammen reimt (das ändert sich ohnehin immer mal wieder oder ist meistens eh nur eine Projektion im Nachhinein). Deswegen kann ich absolut nicht behaupten, ich ‚besäße‘ die ‚wirklichen‘ Einflüsse auf mich alle in mir, egal ob ich ihre materiellen Substrate noch irgendwo herum liegen oder schon längst weggeworfen habe. Denn das zu behaupten benötigte genau diese Annahme eines immateriellen Ego, das ich jederzeit zu identifizieren in der Lage bin.

    Kann ich aber nicht. Vielmehr bin ich immer nur bloß da. Ich bin der Kaffee, der durch meine Speiseröhre rinnt, das Licht, das durch meine Augen in mich dringt, die eisige Kälte, die meine Hautschranke überwindet, das Holz, auf dem ich sitze und nervös herum rutsche, weil die Hose kneift, die Tasse, die meine Finger befummeln, um zu gucken, ob sie den kleinen Sprung neben dem Henkel nicht doch eines Tages erweitert haben und so weiter und so fort.

    Ein ‚Ich‘ bin ich dabei nur, wenn ich von mir erzählen muß, anderen oder mir selbst. In den Dingen aber, die mich ausmachen, bin ich sprachlos da, und wenn ich sie wegwerfe oder verliere, dann ist Sprache (darunter zähle ich in diesem Zusammenhang auch Fotos oder Souvenirs) eine Krücke, das nicht (mehr) Anwesende für mich und andere wieder herbei zu zaubern.

    Selbstverständlich sehe ich den praktischen Nutzen eines schlanken Besitzstandes und die schiere Unerträglichkeit einer Menagerie aus Erinnerungsstücken für den, der die Erinnerungen weder teilt noch teilen will, sie aber dennoch vorgeführt bekommt. Doch ein bewußter Akt der Vernichtung wäre mir fremd und höchstens als ein Oktroi einer mißlichen Laune oder einer dinglichen Notwendigkeit vorstellbar.

    Idealerweise wäre ich daher eine emsige Sammlerin und ende vielleicht eines Tages als schrullige Alte inmitten eines Kaleidoskops (nicht eines Archivs, das verwandelt nach meinem Gefühl die Dinge, die mich ausmachen, in – ggf. averbale – Aussagen über sie) von Gerümpel, mit dem niemand außer mir etwas anfangen kann und soll. Der bleibende Eindruck, den ich hinterließe, wäre dann die Mühe, den ganzen Kram zu entsorgen. Eine sehr handfeste Form der Trauerarbeit, und vielleicht damit nicht die übelste.

  22. Gerümpel, mit dem niemand außer mir etwas anfangen kann…ich habe vor Jahren mein Sportarchiv (ich war mal recht erfolgreich) einfach weggeworfen. Habe es nie bereut.
    Ebenso tat ich es mit einem großen VHS-Bestand mir wichtiger Kasetten mit Dokus und guten Filmen. Einfach weg. Und dabei waren mir die Sachen einst höchst wichtig, „machten mich aus“. Das Gleiche geschah auch mit Zeichnungen. In der Annahme, daß sie, aus den Anfangsjahren einer verstärkten Aktivität stammend, kaum was wert sind, auch ungesehen weg. Ihre Durchsicht hätte mich mehr als 10 Stunden kosten können.

  23. Sorry, dass ich mich irgendwie ausgeklinkt habe aus der Diskussion. Als der momentan direkt Betroffene gebe ich mich dem Blues gerade ein wenig hin…
    die philosophischen Betrachtungen, die ich, zugegeben, selbst angestossen habe, können nicht mehr unbedingt ablenken.
    Diese Wellen muss ich nun einfach aushalten und mit der Zeit wird sich alles legen.
    Aber für den Moment, wie gesagt, mag ich einfach mal die Schnauze halten…

  24. @claudia

    [..] stapeln

    wie gesagt: garage ;-)

    wirklich „im griff“ habe ich natürlich nur die dinge, die sich elektronisch verwalten lassen.

    [..] umzüge

    ich war ja immer – auch wenn das anders klingt – im rahmen ein ganz braver und bin – immer noch – ein sehr häuslicher, sprich ich hassse es, irgendwohin umzuziehen. von hier will ich nach 10 jahren eh nicht mehr weg, zu schööööön …

    [..] engagiert

    es trifft mich halt im kern. ich war schon immer ein kleiner hamster und ein bürokrat, was in einem hippieumfeld kein leichter stand ist ;-)

    [..] “Geschichtsschreibung in der ersten Person”

    guter punkt. wir sind das so gewohnt, daß nur die „herausragenden“ menschen zählen und das ist, wie wir seit brecht wissen, b*llsh*t. das internet eröffnet uns eben die möglichkeit, so etwas wie geschichte – und gegenwart ist ja geschichte im werden – in die eigene hand zu nehmen und sie mit unseren nur vordergründig belanglosen dingen zu füllen.

    [..] alte Artikel

    schlimmer noch: man könnte ja das werden einer liebe noch mal nachlesen … und tut es nicht ;-)

    [..] historischen Archiv

    hihi, ich habe bei archive.org eine hausarbeit von ’88 über die thule hinterlegt. das war „damals“ ja noch eine gewagte these, daß es sich beim NS-system nicht um eine politische bewegung sondern um eine okkulte religion handelte. das ist so gesehen mein einziger relevanter beitrag …

    den rest in der garage.

    [..] Pein für andere Menschen

    ach was! (entschuldige die heftigkeit …)

    das sind doch die dinge, die dich ausmach(t)en.

    ich bin beglückt, wenn mmaw mir ihre eben erst gebastelten miniaturen oder möbel zeigt, auch wenn ich mit dem entstehungsprozess selbst nicht viel anfangen kann. ich hab’s nicht so mit bohrmaschinen und kreissägen …

    man muss sich nicht immer zurücknehmen oder gar dafür entschuldigen, daß man etwas geschaffen hat oder „etwas“ bzw. „jemand“ ist. das ist nur unsere erziehung zu einer (imho falschen) bescheidenheit.

    es nicht zu tun bedeutet ja in der konsequenz vielleicht, einem anderen die anregung, selbst kreativ zu sein, zu nehmen. wir verschweigen viel zu viel, worüber wir ohne scham reden könnten/sollten ;-)

    [..] schrullige Alte

    wenn wir es nicht schon sind, werden wir es doch alle irgendwann mal, weil wir aus einer welt kommen, die in ein paar jahren eh niemand mehr verstehen wird ;-)

    [ps] so wild bin ich nicht, aber … naja, seit 1987 mache ich so was mit dem radio, nicht rund um die uhr, aber durchaus ähnlich

  25. zu Hardys Empfehlung:

    „man muss sich nicht immer zurücknehmen oder gar dafür entschuldigen, daß man etwas geschaffen hat oder “etwas” bzw. “jemand” ist. das ist nur unsere erziehung zu einer (imho falschen) bescheidenheit.“

    hätte ich spontan einen ähnlich langen Text in petto, wie du ihn auf deinem Garagenblog dem Thema „Dominanz des nur noch hier-jetzt“ gewidmet hast!

    Als wäre nicht „weil ich es mir wert bin“ länger schon ein Must-Think-Mem, dass uns ermuntern soll, allen erdenklichen überflüssigen Scheiß zu konsumieren! Erst sollte jeder ICH-AG werden und heute muss man „Marke“ sein. Bescheidenheit und Zurückhaltung sind nicht nur keine Zier mehr, sondern veritable Handicaps im Buhlen um Aufmerksamkeit. „Unterm Strich zähl ich“ wird uns von Banken angesagt (die es auch so meinen) und „Geiz ist geil“ als die rechte Haltung von Händlern anempfohlen. Nurmehr ICH und Augen zu und durch…

    Nö, vor diesem Hintergrund finde ich es nach wie vor richtig, Mitmenschen nicht mit Materialien zu überfahren, die für mich bedeutsam sein mögen, aber nicht unbedingt für die von meiner Zeigelust „Betroffenen“.

    Schön, dass es heute das Netz gibt! Jetzt können wir einfach verlinken oder elend lange Artikel schreiben und jeder wählt selbst, ob dem Link gefolgt, der Text gelesen wird oder nicht. Paradiesisch..

    Noch zur Rückschau auf eigene Spuren/Werke, bzw. deren Ablehnung:

    ich bemerke gerade noch einen Grund, warum der Blick zurück mich so ambivalent aufregt – insbesondere, wenn ich alte Diary-Texte lese. Bisher hab ich mich offenbar immer schnell abgewendet, wenn dieses Gefühl aufkam, damit es sich nicht zu einem klaren Gedanken verdichten möge.

    Nämlich zur deutlichen Erkenntnis: ich war früher echt besser! Besser im Verfassen berührender, gelegentlich mitreissender Texte. Leidenschaftlicher, prägnanter, konzentrierter, mehr auf den Punkt – und auch die Sprachästhetik war „runder“, ich wollte halt‘ noch mit starken Sätzen gefallen… seufz…

    Wen es interessiert: ich hatte nach Artikeln rund um die letzten beiden Bundestagswahlen geschaut und nebenbei einen namens „Weihnachtszeit“ gefunden, der vom Schreiben und Kommunizieren handelt. Gegen das, was ich heute so „verblogge“ ist das ein Leuchtturm-Beitrag! So empfinde ich es wenigstens und das geht mir öfter so, wenn ich frühere Artikel anlese…

    Tja, so schreitet der Verfall voran und wer möchte sich gerne damit konfrontieren?

    Nun, benannt ist gebannt! :-) Ich kann mich ja auch einfach freuen, so viel geschrieben zu haben – und kann es bei Bedarf als Steinbruch und Inspirationsquelle nutzen. Und überhaupt: wo etwas weniger wird, wächst auf anderen Ebenen etwas zu: 2002 hatte ich noch keinen Garten und fuhr auch nicht Rad. Eine drastische Veränderung!


    @Gerhard:
    ich sehe, du hast genug eigene Praxis im „Loslassen“, um zu wissen, wovon hier die Rede ist… alle Achtung, die vielen Zeichnungen „undurchgeschaut“ zu entsorgen ist ein heftiger Akt! Ich hätte versucht, die besten zu behalten – und die dann ein paar Jahre später entsorgt!

    Susannes Beschreibung:

    „Ebenso wenig möchte ich erinnerungshaltige Dinge als emotionale Suchtmittel mißbrauchen, mit deren Hilfe ich mich in Gefühlszustände der Wehmut, Melancholie oder gar des Weltschmerzes versetzen kann (oder will). Das passiert natürlich ebenfalls hin und wieder, aber um an der Welt zu leiden gibt es bessere Mittel (TV, Blogs, Zeitungen), und Melancholie oder Wehmut machen eigentlich nur richtig Spaß zu zweit.“

    spricht mir im übrigen aus der Seele (nur besser und unterhaltsamer formuliert!) Doch selbst auf „Wehmut zu zweit“ oder mehreren hatte ich nie Lust..

    @Thinkabout: Ausnahmsweise hab ich dich in dieser Diskussion NICHT vermisst ;-) – hab mir schon gedacht, dass du noch dabei bist, den Datenverlust konkret zu verarbeiten und zu verwinden. Immerhin hast du ja die Norwegenbilder gefunden – schön, ein Chaot zu sein!

    Jetzt schick ich mal ab, evtl. geht es mit einem anderen Aspekt aus Susannes Kommentar weiter.

  26. […] Was, wenn alle Fotos auf einmal weg sind? […]

  27. Wobei ich, Claudia, diese Möglichkeit, selber aus zu wählen, womit ich mich befasse, auch nur teilweise für gut halte. Es kommt, wie so oft meine ich, auf die Balance an. Mittlerweile zappen, so mein Gefühl, auch im „anfassbarem Raum“ die Leute unglaublich schnell von einem weg. Was man nicht in „140 Zeichen“-Spanne vermittelt, kommt nicht mehr an. Die Leute halten, auch meinethalben, Langatmigkeit einfach nicht mal aus. Zuhören, einfach mal auch eigenes moementanes Desinteresse aushalten und wegstecken, sich damit auf einen anderen einlassen, scheint es immer weniger zu geben. (Wie gesagt: ich finde eine Balance hier gut und will keine Lanze für „andere anöden“ brechen ;-)….)

  28. @claudia

    du sagtest es: antipoden ;-)

    ich setze aber mal nach, weil wir hier aneinander vorbeireden.

    die woche hatte ich eine ausgabe der zeitschrift „interview“ in der hand. 6 seiten reklame für bulgari, boss, uhren im zigtausender level, 1 seite interview, 6 seiten reklame usw. usf. ein perfektes beispiel für deine „zeigelust“. die boheme bespiegelt sich. mir kam das kalte kotzen.

    das 1:1 auf die ebene von „dir & mir“ zu heben und ein plädoyer für die bescheidenheit zu halten, bedeutet, wenn ich das mal konkret auf einen praktischen level hebe: jemand arbeitet in einem betrieb, ist fleissig und bescheiden, das herzstück des ladens … ergo das perfekte opfer für die weniger „bescheidenen“. die bekommen die gehaltserhöhung für die arbeit, die der bescheidene für ihn mitgemacht hat. der bescheidene tröstet sich mit dem gedanken, daß er es „richtig“ gemacht hat. hat er?

    sich vor einen fernseher zu setzen, der boheme das recht einzuräumen, „jemand“ zu sein, sich selbst dagegen für unwichtig und klein zu halten, ist (imho) eine typisch deutsche krankheit, auch mit beeinflusst von „unserem“ ewigen bemühen, bloß nicht den neid der mitmenschen zu provozieren. also „verstecken“ wir uns.

    es ist natürlich auch der preussische und der dem preussentum folgenden periode geschuldete „untertanen“-geist, diese hoffnung, ungesehen in der menge aufzugehen, der „uns hier unten“ als (schon wieder das wort) monstranz gegen „die da oben“ vor uns her getragene versuch, wenigstens in unserer bescheidenheit „besser“ zu sein.

    mischen wir noch ein bißchen christlichen ungeist hinzu und schon haben wir die perfekte selbstrechtfertigung, nicht „aus der rolle zu fallen“.

    nun leben wir in zeiten des internets und in ihnen im spannungsfeld, daß wir uns selbst, das, was wir denken und sind, zu offenbaren – und gleichzeitig mit unserem „stolz“ (auch so ein häßliche wort) kämpfen, dies seit einem dutzend und mehr jahren zu tun.

    du sagst es selbst: der zweitälteste deutsche blog. als programmierer ist das für mich eine sachliche feststellung. für einen emotionell denkenden mitblogger vielleicht schon unbescheidene selbstüberhöhung.

    lass mich noch einen schritt weitergehen: nur die unbescheidenheit, die fähigkeit, in einer gruppe den mund aufzumachen und die anderen „anzutreiben“, „führt“ (noch so ein häßliches wort) andere vielleicht an einen punkt, an dem sie über sich hinaus wachsen und alle gemeinsam etwas „größeres“ schaffen.

    der zeichner, dessen arbeiten ich gerade poste, trägt sein „eh garkäna“ (eh niemand) auch seit 40 jahren als monstranz vor sich her. ich kann in seiner bescheidenheit nicht wirklich etwas „erhebendes“ erkennen, also habe ich ihn gedrängt, endlich die sachen herauszurücken. ein seltsamer mechanismus, wenn du mich fragst, daß wir andere brauchen sollen, die uns sagen, wer wir sind, bevor wir selbst dazu stehen können, wer wir sind, statt … das mag eine projektion sein … „stolz“ genug auf uns und das, was wir nun einmal als kreative menschen tun und mit ein klitzekleinem bißchen weniger zurückhaltung vielleicht heute der bekannte comiczeichner mit einem anderem, vielleicht sogar _seinem_ namen zu sein?

    so bitte ich meine ansprache an susanne etwa zu verstehen. so viel traurigkeit, so viel melancholie. bis hin zur „schrulligekit“, als seien wir nicht alle summe unserer schrullen.

    natürlich bin ich qua persönlichkeitsstruktur ein eher forscher, dominanterer mensch, damit umzugehen ist sicher nicht leicht, aber – gegen ende meiner suada – plädiere ich noch einmal für weniger bescheidenheit, weil ich das „kleine“ all der „unwichtigen“ leute für viel wichtiger halte als das „große“ der boheme.

    das internet gibt jedem mittlerweile das instrument, seine bis dahin vielleicht für unwichtig gehaltenen erfahrungen zu teilen und plötzlich zu verstehen, daß man weder alleine noch klein ist. jeder ist „jemand“.

    wie zb. eine frau in kanada, die selbst möbel baut und die ergebnisse ihrer arbeit öffentlich macht, plötzlich von anderen frauen zuspruch erhält, weil sie wiederum diesen frauen mut mit deren eigenen arbeiten macht. heute ist „ana white“ eine „marke“, hat ein tolles buch veröffentlicht, ein renner bei amazon … und wow, ich finde das toll, nicht nur, weil sie mmaw den bauplan für unser bett lieferte ;-)

    es nutzt niemandem, am wenigstens uns selbst und unserer selbstwahrnehmung, wenn wir uns kleiner machen, als wir es sind, nur weil wir unglücklicherweise eine christliche erziehung in einem land wie deutschland erfahren haben und aus der not eine tugend machen sollen.

    jeder, wirklich jeder ist größer als das und diese familie im video zur musik („this is us“) von emmilou harris & mark knopfler ist so wichtig und „sehenswert“ wie die originalinterpreten selbst. (na gut, emmilou ist mit weit jenseits der 60 immer noch zuckersüß …)

    just my two cents zum thema bescheidenheit.

    wie gesagt: antipode. irgendwo dazwischen ist „wahrheit“

  29. nur kurz was technisches; super8filme digitalisieren für arme:
    projektor aufm flohmarkt oder in der bucht besorgen (manchmal gibts auch noch die alten milchglas-kleinprojektoren für fast nix, machts noch einfacher), film auf weisser, relativ dünner papierbahn oder -bogen projezieren und schlicht rückwärtig mit ner billigen HD-knipse auf stativ abfilmen. die qualität kann bei dieser billig-methode erstaunlich gut sein.