Gerade erscheinen etliche, vom Wahlergebnis in den USA ziemlich geschockte Blogposts, die das eigene Versagen im Umgang mit den Anhängern der Rechtspopulisten thematisieren. Es dominieren Selbstanklagen, schmerzliche Einsichten, Ratlosigkeit – hier ein paar Zitate und meine Gedanken dazu.
„…zuhören. den spinnern. so absurd es sich anhört. aber die spinner hatten recht. oder zumindest haben sie jetzt die macht. wir müssen ihnen zuhören, auch wenn wir ihnen nicht zustimmen. aber ohne zuhören, ohne den versuch zu verstehen, werden wir unser leben riskieren. denn sie sind gefährlich.!“
Tapio Hiller prangert die verbreitete Ignoranz an, die Menschen mit anderen Lebenswirklichkeiten einfach ausgrenzt:
Wir haben es uns in unserer links-liberal-intellektuell-elitären Echokammer so bequem gemacht, dass wir nicht merken, dass die vermeintlichen Idioten so doof gar nicht sind. Sie kriegen sehr wohl mit, dass sich da eine privilegierte Gruppe von Menschen mit Zugang zu meinungsmachenden Medien über sie erhebt… Und jeder Politiker, der in seinem Bedürfnis nach medialer Aufmerksamkeit da mitmacht, wird gleich mit entlarvt. Ab- und Ausgrenzung führt zu Gruppenbildung. Auf beiden Seiten. Je undurchlässiger die Grenzen sind, desto stärker der innere Zusammenhalt, desto stärker die Tendenz, nach weiterer Abgrenzung zu suchen. Am Ende der Spirale geht es nur noch um „die oder wir“. Hillary oder Donald. Das „Volk“ oder die „Wirtschaftsflüchtlinge“. Die Nazis oder die „Lügenpresse“.
Sascha Lobo ist „in einem Alptraum aufgewacht“ und fordert: Wir müssen aus unseren Fehlern lernen. Sonst ist Trump unser kleinstes Problem.
Abseits der Filterbubble: Warum Fakten nicht zählen
Der Tenor der zitierten und vieler anderer selbstkritischer Äußerungen ist, dass man endlich zuhören müsse, sich mit den irrationalen Ängsten und Meinungen der Politikverdrossenen auseinander setzen. Ein löbliches Vorhaben, wer würde behaupten, „miteinander reden“ sei keine gute Idee? Aber: wird das reichen? Ich denke nicht.
Denn WIE um Himmels Willen soll man mit „irrational Motivierten“ sinnvoll reden? Nehmen wir die Flüchtlingsfrage: es ist doch keineswegs so, dass nicht zugehört, nicht argumentiert worden wäre. Wie oft hab‘ ich Blogposts mit Gegenargumenten gegen die „Ängste“ und den Hass gelesen, ganz massiv auch im Mainstream – das scheint einfach nicht zu beeindrucken. Sie WOLLEN keine Flüchtlinge – Punkt!
Argumente und Fakten zählen nicht, weil die Flüchlinge bei vielen eben gar nicht das wahre Problem, sondern nur der Sündenbock sind. Das Problem ist die wirtschaftliche und kulturelle Marginalisierung, die viele Menschen ganz real erleben. Das Hartz4-System z.B. führt zu unzähligen Gängelungen und Demütigungen, gegen die sich weniger kämpferische und weniger juristisch Gebildete einfach nicht wehren können – obwohl es in vielen Fällen möglich wäre, das zeigt der Ausgang unzähliger Sozialgerichtsverfahren, die den Klägern Recht geben.
Nun wird eingewendet, dass es ja nicht nur Hartz4er sind, die diesen rechten Kurs mittragen. Stimmt, aber die Angst, dort auch selber schnell landen zu können, ist bis in die Mitte hinein hoch wirksam! Zudem entsteht ziemlich viel Leid, Wut, Hass durch das „ganz normale Wirken der Systeme“, aber eben auf Politikfeldern, für die sich viele gar nicht interessieren.
Ein Freund von mir hat für seine Mutter einen Pflegeheimplatz suchen und finden müssen. Weil – wie bei vielen – das eigene Einkommen und die Pflegeversicherung nicht reicht, ergänzt die Sozialhilfe den Rest der Kosten. Aber mit welchen Begleitmaßnahmen! Offiziell hat die alte Dame 120 Euro Taschengeld pro Monat. Hättet Ihr gedacht, dass dennoch der Sohn nun jede Ausgabe im Rahmen dieser 120 Euro belegen und BEGRÜNDEN muss? („Kamm gekauft, 1,20 Euro. Der alte war verschwunden…“)
Ich führe das nur als Beispiel dafür an, was für eine widerliche, kalte Bürokratie da bis in die Details individueller Lebensvollzüge eingreift – und nicht nur in der Pflege. Wenn ein kleiner (!) Bauer mal eben eine „Verordnung von oben“ umsetzen soll, die dazu zwingt, die Gülle – an sich sinnvoll – „bodennah“ auszubringen, das aber 85.000 Euro für ein neues Güllefahrzeug bedeutet und direkt in die Pleite treibt – ja, dann hat auch er allen Grund, zum Systemfeind zu werden! Insbesondere sammeln da GRÜNE massiv Minuspunkte.
Sind so unsexy Themen…
Die „digitale Elite“ interessiert sich nicht für solche „Marginalien“ des täglichen Politik-Vollzugs. Was den weniger Kampfkräftigen ständig passiert, davon ist man selber doch (hoffentlich!) weit entfernt, kann flexibel auf Veränderungen reagieren, sich immer mal wieder „neu erfinden“ – aber für wieviel Prozent der Bevölkerung ist das so? Gewiss nicht für die Mehrheit!
Reden ist also das eine, Handeln das Andere, sehr viel Nötigere. Die Mühen der Ebene auf sich nehmen, die vielfältigen Bedrückungen ernst nehmen, denen all die weniger Flexiblen mehr oder weniger wehrlos ausgesetzt sind. Wann gab es z.B. den letzten „Shitstorm“ mit Auswirkungen quer durch die Presse, gar eine gut besuchte Demo gegen menschenverachtendes Vorgehen der Job-Center? Kann mich nicht erinnern, sowas interessiert immer nur wenige, einschlägig Aktive. Oder das Schicksal all der „zu alten“ Arbeitnehmer, die nach und nach schlicht entsorgt werden, weil sie nicht in die schöne neue Arbeitswelt passen? Schulterzucken, ist halt so. Sind ja auch sperrig, diese Alten! Dann sowas Entlegenes wie die Lage der Menschen auf dem mehr und mehr entvölkerten Land: Tja, warum ziehen die nicht einfach auch in die Stadt?
Sich diesen und vielen anderen Problemen zu widmen würde Zeit kosten, Zeit, die die „digitale Klasse“ nicht hat. Wir müssen schließlich täglich den Info-Wust bewältigen, unser Equipment pflegen und sicher konfigurieren, uns eine Meinung zu allerlei Gadjets und neuen Apps bilden, das Selbst optimieren und mit dem richtigen „Content“ in den sozialen Medien „präsent sein“, um jederzeit in anderen Arbeitsumfeldern und Marktnischen eine neue Chance zu haben. Da bleibt dann halt nur Zeit für ein paar Retweets auf Twitter, wenn die neue Sau durchs Dorf getrieben wird: Empört Euch! Klick, klick…
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17.12 Uhr: Text minimal überarbeitet, inhaltlich nicht verändert.
Auch dazu:
Trump, eh? Nerdcore: „Und es ist sehr wohl so, dass die progressiven Kräfte schon vor Jahren einen ihrer ureigensten Werte verraten haben: Die Solidarität, die sich in zwei von drei Worten der Losung der französischen Revolution äußerten, Gleichheit und Brüderlichkeit.“
Verstehen statt verteufeln – Phillip Mettheis: „Die einen tindern sich durch die Großstädte, die anderen möchten ihren Glauben ausleben und Niqab tragen“
Fefe: „Das ist eine massive Katastrophe, da sind wir uns ja wohl hoffentlich alle einig. Was wir im Moment in der Angelegenheit tun, das erinnert mich an unsere Reaktion auf den Klimawandel. Hey, *raumspray*, das läuft uns nicht weg, da machen wir nächste Woche was!“
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53 Kommentare zu „Scheuklappen ablegen, zuhören – und dann?“.