Es ist kurz vor 7, draußen noch stockdunkel, alles wunderbar ruhig. Der Lebensrythmus verlagert sich immer mehr zum Morgen hin, was ich mir im früheren Leben als Städterin nie hätte träumen lassen. Wie viele andere meinte ich, ein „Nachtmensch“ zu sein, geboren aus dem Trotz gegen jedes „früh aufstehen und zur Arbeit gehen“, obwohl ich letzteres mit wenigen Ausnahmen zeitlebens vermeiden konnte. Später gehörte es dann zu meinem Selbstbild: Nachts, wenn der „Normale“ schläft, werde ich erst richtig umtriebig….
Heute weiß ich, daß es die, den oder das „Normale“ nicht gibt, allenfalls als kollektive Wunschvorstellung zur Abwehr von Ängsten und Unsicherheiten. Da es jedoch immer unmöglicher wird, „kollektive Vorstellungen“ zu entwickeln, übernehmen das mehr und mehr die Überwachungskameras, die Wachdienste und Kontrollen des öffentlichen Raums. Nicht mehr der innere (Selbst-) Zwang, die eigene Psyche halbwegs normenkompatibel zu halten, ist gefragt, sondern es genügt, äußerlich nicht weiter aufzufallen. 20.000 „kontrollierte Communities“ soll es in den USA bereits geben, lese ich in der ZEIT.
In Gottesgabe, wo jeder jeden auch unbekannterweise grüßt, ist all das weit weg. Jetzt im beginnenden Winter gehe ich kaum mehr raus und manchmal spüre ich, wie es an Eindrücken mangelt. In Berlin konnte ich eben mal fünf Minuten bis zur Markthalle gehen, wo „das Leben tobte“, zu jeder Jahreszeit. Anders als in den neuen sterilen Shopping-Malls ist eine altberliner Markthalle ein eigenes Biotop: Händler und Angestellte, die von morgens um 6 bis abends um 7 praktisch dort „leben“, Stammkundschaft aus dem Kiez, wenige Touristen und allerlei Randständige: Männer aus südlichen Ländern, die den ganzen Tag an zentralen Plätzen stehen und reden, jugendliche Schnorrer mit ihren Hunden vor den Eingängen, Säufer mit Sixpacks auf den Bänken vor der Halle – und alles friedlich, noch ganz ohne Kameras.
Vielleicht besuche ich Berlin bald mal für zwei Tage, das reicht dann wieder für einige Wochen Ereignislosigkeit. Denn im Grunde bin ich unglaublich statisch im realen Raum verhaftet. Dauernd herumfahren, reisen, pendeln, Freunde hier und Veranstaltungen dort besuchen – unvorstellbar! Der Eniergieaufwand und die kontinuierliche Einspannung des Bewußtseins in das jeweilige Geschehen, dieses Vergessen des Beobachters zugunsten des Machers, ohne das so eine Mobilität nicht zu leisten ist, reizt mich in keiner Weise. Da vergesse ich mich lieber beim Webdesign, das ist jederzeit unterbrechbar.
Wenn ich heutige Kinder sehe, die von ihren Eltern bereitwillig von hier nach da kutschiert werden, dort zum Förderunterricht, hier zum Kindergeburtstag, da in die Sportstunde – Kinder, die schon von Anfang an lernen, in vielen Räumen an wechselnden Orten zu leben, oft auch in verschiedenen Elternhaushalten abwechselnd, sehe ich keine Probleme mit der „Flexibilität und Dynamik“ dieser neuen Generation. Sie werden keine Bindungen mehr an einen RAUM entwickeln und sie lernen, daß alles veranstaltet und gemacht werden muß. Sie werden die Welt, die wir ihnen hinterlassen, problemlos managen.
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