Während die trüben Novembertage uns in besinnliche Stimmungen versetzen, Familien ihre Adventskränze schmücken, die Nacht immer früher beginnt und es immer ruhiger und kälter wird, geht anderwo die Post ab: die „Jahresend-Ralley“ an den Börsen treibt die Adrenalinspiegel hoch. Risiko-freudige Spielernaturen haben allein in den letzten Tagen am tiefen Fall der Holzmann-Aktie ein Vermögen verdient, doch auch „ganz normale“ Aktiengeschäfte bringen in den letzten Jahren locker 10 – 30% Gewinn (und mehr!) pro Jahr, sofern man auf die Richtigen gesetzt hat.
Schon länger beobachte ich dies alles am Rande – und frage mich immer öfter: Bin ich nicht ein bißchen blöd, wenn ich weiterhin mein Geld einfach interesselos auf einem Sparbuch ablege und mich nicht weiter kümmere? Auch das Advancebank-Girokonto mit 1,9% Zinsen ist ja vielleicht nicht das Ende der Fahnenstange….. Kurzum: Seit Manfred Krug im TV den Daumen für die T-Aktie gehoben hat, zweifle ich so vor mich hin: Soll ich…? Soll ich nicht?
Mein Vater, der mir ein ganz spezifisch konfliktreiches Verhältnis zum Geld-Verdienen anerzogen hat, gab mir noch auf dem Sterbebett den (unverlangten) Rat: „Hör mal, WENN überhaupt, dann NUR FESTVERZINSLICHE WERTPAPIERE!“ Zwar hatte er mich von Kindheit an mit seinen zynischen Sprüchen unglücklich gemacht („Nur Geld allein zählt, bei Geld hört die Freundschaft auf, Geld regiert die Welt“) und durch abschüssige Versuche, mich in Konfliktsituationen mit Hundertmarkscheinen zu bestechen, meine Verachtung auf sich gezogen. Doch im „realen Leben“ zog er Sicherheit vor, blieb ein kleiner Angestellter und beschränkte sich auf Sparen und Lotto-Spielen.
Ich ging natürlich voll in den Widerstand: Geld ist völlig unwichtig! Geld spielt keine Rolle, nur menschliche Werte zählen. Ja, Eigentum ist Diebstahl, lernte ich 1968, als ich gerade 14 war (siehe auch: Die Geldmacke), und schaute voller Verachtung auf alle herab, denen ein normales Einkommen wichtig war. Ein abenteuerlicher „Patchwork-Lebenslauf“ begann, von dem ich keine Sekunde bedauere. Ja, heute partizipiere ich davon wie niemals zuvor, denn die Art und Weise, wie ich in meiner Widerständigkeit die meiste Zeit lebte (z.B. in Ungewissheit, woher übernächsten Monat die Miete kommt), wird den „Massen“ als künftiger Normalzustand angedroht. Klar, daß mich das nicht so furchtbar schreckt, wenn ich auch heute einen etwas längeren „Anlage-Horizont“ pflege. Schließlich bleibt von den Webdesign-Aufträgen auch was übrig. Keine Reichtümer – aber irgendwie doch zu schade, auf einem Sparbuch zu verkümmern…. oder? Grübel….
Mit Aktien spekulieren? Meine Güte, das wär mir noch vor 5 Jahren als der große Sündenfall vorgekommen. Heute denke ich tatsächlich nicht mehr so sehr über das „ob“ nach, sondern über das „wie“. Und beginne mehr und mehr, darüber zu lesen. So hab‘ ich es schließlich auch gemacht, als ich anfing, mich für Computer zu interessieren: 1 Jahr eine Fachzeitschrift gelesen, erst nur 5% verstanden, am Ende dann 90% – dann fühlte ich mich fit, loszulegen.
Aber: WAS FÜR EIN WEITES FELD! Ich lese den Wirtschafts- und Finanzteil der FAZ, die Börse-Online, auch mal das Magazin „Finanzen“, in dem sich ein interessanter Vergleich findet:
Was aus 100.000 DM wurde (4.1. – 5.11.99)
- Deutsche Aktien: 106.951
- US-Aktien: 130.837
- Japanische Aktien: 166.951
- Deutsche Fonds: 117.979
- Gold: 114.563
- Dollar: 113.377
- Internat. Optionsscheine: 113.102
- Deutsche Anleihen: 98.083
- Immobilien: 101.070
- Sparbuch: 101.687
Je mehr ich lese, desto mehr weiß ich: alles, was da gesagt und geraten wird, ist keineswegs sicher, ja, es gilt sogar oft das genaue Gegenteil. Das rührt daher, daß im Börsengeschäft alles mit allem reagiert: die Unternehmensereignisse, die Statements der Analysten, die technischen Verläufe der Aktienkurse, die politischen Bedingungen und Eingriffe, die allgemeine Wirtschaftslage (insgesamt als auch in einzelnen Branchen und Ländern), die Tricksereien der Börsianer, und vor allem: die Kommunikation über all dies, auf die unzählige Individuen im Rahmen ihrer Befindlichkeit reagieren: voller Gier, voller Angst oder ganz gelassen – und man weiß es nicht genau, wann es wie umschlägt….
Faszinierend! Wer da mitspielt, ist völlig auf sich gestellt – gerade wegen der vielen Einflüsse, Infos und Tips. An einem Aktienengagement zeigt sich praktisch in Mark und Euro, ob meine Einschätzung der Welt, meine Vermutung, wie „die anderen“ handeln werden, richtig war. Ich muß sagen: das reizt mich! So mit 22 hab ich mal zwei Jahre fasziniert Schach gespielt – gerade dieses Spiel, weil es am allerwenigsten mit Glück zu tun hat, sondern mit erlernbarem Wissen und Psychologie. Doch als ich eines Tages mal wieder im Verein die Klötzchen übers Brett schob, relativ gelangweilt, denn es war – außerhalb der Turniere – schlechter Usus, daß immer Gleich-Gute miteinander spielten, verlor ich von einem Moment auf den nächsten jede Freude am Spiel. „Bin ich eigentlich wahnsinnig, hier blöde Holzklötzchen hin und her zu schieben?“ fragte ich mich. „Was hat denn das mit dem echten Leben zu tun?“
SCHACH war seit diesem Moment für mich gestorben. Aber vielleicht finde ich ja speziell DIESE Spielfreude wieder – auf einem anderen Parkett, das sehr viel mehr mit der „wirklichen Welt“ zu tun hat. Mal sehen…. die Jahresend-Ralley schaff ich wohl nicht mehr.
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