In letzer Sekunde hechtet der Held in die rettende Deckung, bevor die Sprengladung zündet. Sein Vater sitzt am Auslöseknopf und wartet fast etwas zu lange, obwohl der Sohn doch laut ruft „JETZT! JETZT!“ und offensichtlich zum Sterben bereit ist, um das Freisprengen des Kühlwassers für den Reaktor im allerletzten Moment zu ermöglichen.
„Countdown to Chaos„ lief gestern Abend bei RTL, ein fetziger Katastrophenfilm über den Milleniumsbug, der im Film ein „Worst-Case-Szenario“ in Gang setzt: Flugzeuge stürzen vom Himmel, Strom fällt großflächig aus, ein AKW in Schweden geht hoch und ein baugleiches in USA fast auch, wäre da nicht DER HELD rechtzeitig zur Stelle.
Vorbereiten? Ernsthaft?
„Soll ich einen Ofen kaufen?“, fragte mich danach mein Lebensgefährte, der doch bisher nicht einmal einen umfangreicheren Nahrungsmitteleinkauf (so für eine Woche…) in Erwägung ziehen wollte. Die Zentralheizung in Schloß Gottesgabe ist nämlich vom Strom abhängig, der hier auch schon ohne Milleniumbug ab und an ausfällt. Und sie enthält ein umfangreiches Regelungssystem zum Energiesparen – wird es den Y2K überstehen? Oder werden wir Silvester und die Tage danach im Kalten zubringen? „Kein Ofen, laß uns lieber vertrauen!“, sage ich. Denn wenn ich anfange, mit dem Schlimmsten zu rechnen, dann wären noch ganz andere Vorbereitungen nötig und DAS ist mir zu viel angesichts der geringen Wahrscheinlichkeit, daß etwas passiert.
Meine Wahrscheinlichkeitsberechnung kommt natürlich aus den Medien: „Alles im Griff“, heißt es von allen Seiten. Zwar wird das Innenministerium mit 220 Leuten von Silvester bis zum zweiten.Januar nonstop durcharbeiten, dabei mit den weltweit verteilten Regierungsstellen und Unternehmen verbunden sein undgemeinsam das Voranschreiten des Jahreswechsels über die Datumsgrenzen beobachten – aber das ist nur zur Vorsicht. Gut, ich vertraue darauf! Kommt meiner Faulheit entgegen, man stelle sich nur vor, ich würde versuchen, hier wirklich einen „Ausfall der technischen Zivilisation“ vorzubereiten…..!!!
Angstlust, Hysterie – oder was?
Y2K, der Milleniums-Bug, das Menetekel an der Wand – ist er nicht faszinierend? Was ist es bloß, das so viele Menschen dazu bewegt, mit großer Angstlust auf die MÖGLICHKEIT eines Crashs zu blicken? Warum malen so viele Autoren, vor allem in den USA, mit düsterer Begeisterung das Ende von „Life, as we know it“ aus?
Zur Jahrtausendwende sei Hysterie an der Tagesordnung, vermelden die Psychologen. Mag sein, doch ich vermute, der Y2K wäre auch an jedem anderen Datum „faszinierend“. Es ist die Vorstellung, alles Computertechnische könnte sich mit einem Schlag für immer verabschieden, die uns reizt. Das Leben, wie wir es kennen und weiß Gott nicht nur schätzen, wäre zu Ende. Zwar wäre dies für die meisten Menschen in den entwickelten Ländern auch das eigene Ende: wer kann schon von sich sagen, er oder sie könne nach einem Ausfall der Zivilisation im Chaos überleben? Unsere Abhängigkeit von den selbst geschaffenen Geräten ist vollständig, das wird durch diese Vorstellung schnell klar, konkreter, hautnäher als sonst, wo es ein rein abstraktes Wissen bleibt.
Gegen die Angst, die mit einer solchen, sei es noch so unwahrscheinlichen Möglichkeit auftritt, helfen die beruhigenden Statements der Politiker und Unternehmen. Es wird nicht geschehen, man hat daran gearbeitet, Milliarden investiert, und alles ist im Lot, so heißt es. Und doch: Wird am Morgen des 1.Januar 2000 nicht auch eine kleine Enttäuschung zu spüren sein? Es geht alles weiter, wie gehabt – und DAS finden wir nicht nur gut!
Würde ein Kind aus der Zeit Buddhas in die heutige Welt geboren, gäbe es keinen Unterschied zu anderen Kindern: der Mensch ist seit zigtausend Jahren physisch-materiell derselbe. Erst seit 400 Jahren – und so richtig heftig erst seit 100 – ist die technische Welt herangewachsen, wie sie uns heute umgibt. Wir leben in Abhängigkeit von Apparaten und Systemen, die wir weder verstehen noch reparieren können. Selbst das Auto, einst des Mannes liebste Bastelbeschäftigung, hat sich dem Selber-machen durch die Elektronik vollständig entzogen. Wir können weder unsere Nahrung herstellen, noch arbeiten, noch miteinander kommunizieren, ohne Computer zu benutzen. Das HARTE physische Leben liegt lange hinter uns, wir können es uns gar nicht mehr vorstellen.
Ein Segen! Doch etwas fehlt uns auch. Die Zivilisation selbst ist nur ein dünner Firnis auf dem Steinzeitmenschen, von dem uns allein die Kultur unterscheidet. Und die digital-vernetzte Welt ist ein noch dünnerer Niederschlag aus jüngster Zeit auf dieser zivilisatorischen Schicht. Warum fahren denn Zigmillionen mehrmals im Jahr an einen STRAND, um sich dort in den SAND zu legen und im Meer zu baden? Warum halten junge Männer eine U-Industrie am Leben, die immer neue Filme von Gefahr und Gewalt, vom Kampf Mann gegen Mann produziert? Warum ist PORNO eine Hauptanwendung des Webs? Warum halten so viele Leute Hunde, die in ihren Wohnungen mehr vegetieren als leben? Und warum braucht unsere Gesellschaft so ungeheuer viel Alkohol?
„Life, as we know it“ füllt uns nicht aus, läßt uns unbefriedigt, denn es zwingt uns in jeder wachen Minute zu Vernunft und Selbstkontrolle, zum „nützlichen“ Tun. Allein der Kaufakt ist uns als „Restleben“ geblieben, der Konsum von Waren und unterhaltenden EVENTS aller Art. Regeln, Formulare, Gesetze und Vorschriften ersetzen bis in die kleinste unserer Handlungen hinein eigene Entscheidungen und eigene Verantwortung. Mit dem Erwachsen-werden können wir uns in einer solchen Welt bis Mitte dreißig gemütlich Zeit lassen, falls es überhaupt jemals dazu kommen muß.
Gebannt im Digital
Die technische Welt braucht den GANZEN MENSCHEN nicht mehr, er stört nur. Und wer nicht in der Lage ist, sich auf das Erwünschte zu reduzieren, für den stehen Knäste und Irrenhäuser, sowie eine Reihe hilfreicher Umerziehungseinrichtungen bereit. Neuerdings werden alle aussortiert, die nicht willens oder nicht in der Lage sind, einen Computer zu BEDIENEN, ein Handy mit sich zu tragen oder sich im Internet eigenständig weiterzubilden. Das „richtige Leben“ zu Beginn des dritten Jahrtausends findet vor dem Monitor statt, kommunizierend mit anderen Bildschirm-Existenzen oder allzeit erreichbaren Handy-Monaden. Und weil alles bereits getan und geregelt ist, worüber man einst beraten, sich einigen und entscheiden mußte, geraten die Gespräche – zum Beispiel in den öffentlichen Räumen der Mailinglisten – so unglaublich schnell OFFTOPIC.
Y2K, der Millenium-Bug, macht uns durch sein MÖGLICHES Crash-Potential ein letztes Mal bewußt, was der Fall ist, wie es mit uns steht. Jedoch – anders als frühere Momente der Bewußtheit – birgt dieser Blick kein „Erwachen“, weder die Chance noch auch nur den echten WUNSCH nach einer Veränderung. Wo immer wir hinsehen, überall macht uns das Digitale das Leben bequemer, angenehmer, vordergründig einfacher, es potenziert sogar unseren Wirkungsgrad, jetzt, wo nicht mehr viel zu bewirken ist. Es schmeichelt seiner Majestät, dem ICH in nie gekannter Weise.
Wir können nichts mehr ANDERES wollen. Wir sind offensichtlich die letzten Menschen, einerseits. Zur anderen Häfte sind wir schon Cyborgs und haben nur ein müdes Lächeln für den menschlich-archaischen Part, dieses verrückte Wesen mit seiner unausrottbaren Sehnsucht nach dem CHAOS.
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