Was künstliche Intelligenz ist, konnte ich gerade hautnah miterleben: Vor zwei Stunden wollte ich ins Diary schreiben, doch der gesamte, gestern mühsam auf den neuen PC übertragene Bereich mit meinen Webseiten war verschwunden! Wie das? Ich zweifelte schon an meinem Erinnerungsvermögen, das eh nicht das beste ist. Doch die genauere Sichtung der Festplatte ergab, daß ich die Webprojekte WIRKLICH schon ‚rüberkopiert hatte. Unterhalb des Verzeichnisses „Daten“ war nämlich alles noch vorhanden, bis auf den Ordner „Eigene Dateien“. Ich erinnere mich, gestern zum Abschluß mal versuchsweise einige Wartungsfunktionen angeworfen zu haben. Schließlich bin ich dem FORTSCHRITT gegenüber aufgeschlossen und lasse mir von Windows ’98 Ratschläge geben – dachte ich mir so in meiner Vertrauensseligkeit! Und da war doch auch so eine Funktion „Überflüssige Dateien löschen“, die ich angeklickt hatte, in der Meinung, es handle sich um Technik-bedingten Datenmüll, der so bereinigt werden soll. Jetzt weiß ich es besser!
Hau weg den Scheiß?
Es ist nicht immer möglich, sich in die Programme hineinzuversetzen, um nachzuempfinden, was sie wohl „denken“. Hier aber liegt eine Vermutung nahe: Es existiert unter C:\ schon immer ein vorkonfiguriertes Verzeichnis „Eigene Dateien“, das von Winword und anderen Microsoft-Programmen genutzt wird. Und ich war so vermessen gewesen, noch einmal einen Ordner dieses Namens anzulegen! Zwar in einem anderen Verzeichnis (unter „Daten“), was Windows ’95 bisher nicht verstört hatte, doch Windows ’98 ist eben INTELLIGENTER! Hau weg den Scheiß, was fällt diesem Dumm-User ein, einen der geheiligten NAMEN vorkonfigurierter Ordner mehrfach zu verwenden!
Ich beuge mich der rohen Gewalt, nenne den Bereich in „Claudias Seiten“ um und hoffe, das findet nun Gnade vor dem großen Bruder! Und ganz nebenbei: Heute morgen wandelten mich sowieso Gedanken an, ob nicht dieses Diary im Grunde überflüssig ist? Richard aus New Yorck – mit seinen 81 Jahren gewiß mein ältester Leser – schreibt zum Beispiel:
„Ich bewundere Deine Fähigkeit, die Situation unseres Lebens zu beschreiben. Wenn ich es gelesen habe, weiß ich eigentlich nicht recht, was ich gelesen habe. Es erinnert mich ein bißchen an die Verfassungsrechtskommentare während meines juristischen Studiums. Ich bin froh, daß ich das nicht vollendet habe, es wäre nur eine Gehirnverbiegung geworden mit haufenweiser Geldverdienung.“
Ja, ich hab‘ auch mal ein juristisches Studium abgebrochen, aus den gleichen Gründen. Deshalb kann ich das gut nachvollziehen. Und Verfassungsrecht war mir ganz besonders langweilig, denn mit Anfang zwanzig interessierte mich eher der schwierige Umgang mit Männern als die Frage, wie denn ein Staat zu machen sei.
Zu brav?
Auf dieses Webtagebuch bezogen, finde ich auch: es ist viel zu brav! Zu „staatstragend“, zu positiv, zu beruhigend. Ich schreibe so, um mich meiner eigenen Stabilität täglich neu zu versichern. Schließlich sind die negativen Einflüsse, die Gründe, sich furchtbar aufzuregen, regelmäßig in der Mehrzahl und ich hatte und habe keine Lust, das Meer der Kritik, der Abgesänge und der Verisse noch zu vergrößern.
Der andere Weg ist das literarische Schreiben – Fiction statt Real Life. Ein Weg, den ich bisher nicht zu gehen versuchte, weil ich mich nicht vom „richtigen Leben“ entfernen wollte. Literatur heißt, sich von dem, was der Fall ist, zu distanzieren – das ist bis heute meine eigene, an Wittgenstein angelehnte Definition von Literatur. Langsam aber sicher denke ich weiter: Ist nicht Literatur eine Möglichkeit zum „richtigen Leben“ für jemanden, der SOWIESO in Distanz lebt zu dem, was der Fall ist? Und: im Rahmen von „Fiction“ bräuchte ich keinerlei Rücksichten zu nehmen, könnte ganz persönliche Erfahrungen in Erfundenem und Überzeichnetem verstecken, könnte Figuren entwickeln, die verschiedene Aspekte nicht zusammenpassender Persönlichkeitsanteile ausleben und vieles mehr.
Naja, ich träume ein bißchen, jetzt im funkelnagelneuen Jahr. Keine Ahnung, ob ich überhaupt literarisch schreiben kann. Mein bisher einziger Versuch, eine Art psychologischer Kurzkrimi, umfaßte 43 Seiten und kostete mich sechs Wochen, in denen ich nichts anderes tun konnte als in meiner Geschichte zu „leben“. Andrerseits hat er mich in nie gekannte psychisch-geistige Ekstasen versetzt….
Neben der Frage des Könnes und der Zeit gibt es noch das Problem der FORM. Nach jahrelangem Webpublishing ist es mir nicht mehr möglich, mich im Kämmerlein hinzusetzen und ein BUCH oder eine längere Story zu schreiben. Nur die Flucht nach vorne ist noch drin: Netzliteratur.
Einige Leser kennen die jahrelangen Diskussionen in der Liste Netzliteratur. WAS WOHL ist die neue Literatur, die dieses Medium entstehen läßt? Geht hier Literatur überhaupt noch, oder ist nicht allenfalls NetzKUNST möglich – zum Beispiel als Konzept-Art verstanden, die vor allem den Akteuren und Theoretikern Freude macht. Mit Hyperfiction, dieser Linkliteratur, die kaum jemand liest, kann es doch nicht schon ausgestanden sein? Und auch diese multimedialen Werke aus Bild, Text, Sound und allerlei bewegtem Klickibunti, die in der Regel die einschlägigen Wettbewerbe gewinnen, können doch nicht ernsthaft das ersetzen, was uns Bücher und Geschichten bedeutet haben und noch immer bedeuten?
Meine Frage ist nicht die des LESERS, sondern ich frage als eine, die SCHREIBT. Mit der weiteren Verbreitung des Netzes werden viele Autoren ihre „Schreibe“ verändern und bemerken: wie anno dunnemal in der Gutenberg-Galaxis geht es nicht mehr….
Die bisherigen Versuche, NETZLITERATUR zu produzieren, waren genau das: Versuche, Netzliteratur zu produzieren… nicht etwa originärer Ausdruck des inneren Bedürfnisses der Autoren. Genau das entsteht nicht von heute auf morgen, weil die neue Kommunikationstechnik nun einmal da ist. Sondern die Techniken müssen in Fleisch und Blut übergegangen, müssen selbstverständlicher Alltag geworden sein, bevor etwas entstehen kann, was man dann – vielleicht – als Netzliteratur bezeichnet. Schließlich haben auch Bücher lange schon existiert, bevor etwa der ROMAN aufgekommen ist. Nur so als Beispiel.
Bisher ist dieses Diary meine vorläufige Antwort – doch ich merke, es ist vielleicht nicht die letzte.
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