Das Jahr fährt ganz langsam an und ich werde nicht aufs Gas treten! Zwar schleichen sich von allen Seiten kleine Pflichten an, doch ein größeres Vorhaben hat sich noch nicht gezeigt – außer dem eigenen, an dem ich dran sitze: Ein neues Cyberzine über das Publizieren im Web. Dem tun ein paar Tage Arbeit ganz gut!
Eine Fernsehproduktion will mich für einen immerhin öffentlich-rechtlichen Sender über das „Tagebuch-schreiben im Web“ interviewen – werde ich nicht machen, doch mich wundert, daß diese Aktivität überhaupt immer wieder soviel Aufmerksamkeit genießt. Vielleicht existiert ja wirklich die Vorstellung, da breite jemand Dinge öffentlich aus, die vor Netz-Zeiten allein für die geheime Schublade bestimmt gewesen wären? Die Realität kann da nur entäuschen – zumindest, was dieses Diary angeht.
Doch selbst wenn es anders wäre: was gibt es denn schon noch, das einem anonymen Publikum den in der Schublade vermuteten „Kick“ geben könnte? Nichts! Es gibt keine Geheimnisse mehr, alle menschenmöglichen dunklen Ecken und Absonderlichkeiten strahlen unterm Scheinwerferlicht, das 20.Jahrhundert hat ganze Arbeit geleistet. Der geile Blick aufs verborgene Böse geht ins Leere, denn das Böse ist nicht mehr verborgen, sondern langweiliger Mainstream. Es hat seine Glaubwürdigkeit, sich selbst als „Böses“ verloren, ist allzu verständlich und banal geworden, immer noch „Böseres“ wird verzweifelt gesucht, das noch einen Schrecken einjagen könnte.
Aktuelle Thriller zelebrieren neuerdings seltener das fantasievolle Menschen-Metzeln, so hab‘ ich jedenfalls gelesen. Sollte dem wirklich so sein, nehme ich das mal als gutes Zeichen, wenn auch die bloße Ermüdung nicht unbedingt etwas mit Besserung zu tun haben muß. Auch Sex ist ja eine unendliche Wiederholung derselben Erregungszustände.
Die Meldung: „Gunter M. aus K. speiste sonntags nur Baby-Augen an Broccoli-Mousse“ bringt jedenfalls kaum noch jemanden in Wallung. Erst wenn es weiter heißt: „Im Knast schrieb er in sein Tagebuch: ‚there is no free lunch'“, ja, dann lohnt der Bericht wieder.
Der Philosoph Sloterdijk ist ja letzten Sommer mit seinem Vorschlag, große Geister über die gentechnische Verbesserung des Menschenparks nachdenken zu lassen, in die Skandalmaschine geraten. Doch was Denker nicht denken sollen, dürfen Literaten auf den Punkt bringen. Der Shootingstar Michel Houellebecq bringt in seinem Roman „Elementarteilchen“ (unbedingt lesen!) eine radikale Lösung, an die sich Sloterdijk auch in mutigster Stunde nicht gewagt hätte: Durch Eingriffe ins Genom wird die Chromosomenteilung abgeschafft, Grundlage der geschlechtlichen Differenzierung und ebenso der Sterblichkeit. Neue Individuuen werden durch Klonen geschaffen, die Nach-Menschen sind geschlechtslos und unsterblich, frei von Tod und Werden – und sogar mit MEHR Möglichkeiten zur ehemals sexuellen Lust. Die Menschen sterben schnell aus, da sie den Neuen Wesen kulturell unterlegen sind, die brüder- und schwesterlich zusammenstehen wie vordem nur eineiige Zwillinge.
Houellebecq ist übrigens nicht wegen dieses unbedeutenden Schnipsels seiner Story faszinierend, sonst hätte ich sie nicht verraten.
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