er „Mensch auf der Straße“ sagt die Aktienkurse treffender voraus als die Analysten und Experten der Banken und Fontgesellschaften, das hat eine Umfrage ergeben, die kürzlich durch die Medien ging. Ich staune und frage mich: Ist das denn nur bei Aktien so?
Alle reden von der „Wissensgesellschaft“. Schulen und Universitäten sollen grundstürzend reformiert werden, um endlich wieder Menschen in die Welt zu entlassen, die sich im Ozean der Informationen zurecht finden. Jeder ist gefordert, lebenslang in immer neuen Bereichen zum Experten zu werden, ganz wie der Markt es braucht. Der „Ruck“, den Roman Herzog einforderte, erschüttert nun schon einige Zeit die Deutschland AG – wir kommen an in der Wissensgesellschaft, spät, aber doch.
Wissen als ob
Seit 1992 arbeite ich am PC, es ist mittlerweile der vierte. Da ich keine Freude daran habe, in die Tiefen des Systems einzusteigen, brauchte ich in dieser Zeit öfter mal Hilfe. Voller Ehrfurcht rückte ich dann einen zweiten Stuhl neben den Experten, der meiner Maschine wieder aufhelfen sollte, und beobachtete gespannt, wie er das anging. Fragte – begierig, es wenigstens zu WISSEN, wenn schon nicht zu können – immer mal: Was machst du jetzt? Woher kommt dieses Problem? Warum verhält sich das jetzt so?
Und es zeigte sich: meistens wußte er es auch nicht, ja, wollte es garnicht wissen! Das ganze Gewürge, oft mehrere Stunden lang, bestand aus lauter „Trial & Error“, durchtesten einzelner Systemkomponenten und Softwaremodule, wobei „Verdächtige“ dann halt mal versuchsweise ausgetauscht oder neu installiert wurden. Irgendwann klappte dann alles wieder, wenigstens für einige Zeit. „Was war es denn jetzt?“ – auf diese Frage bekam ich keine befriedigende Antwort. Mein Experte war glücklicherweise ein Freund, der seine Unwissenheit nicht zu verbergen suchte, auch deshalb nicht, weil er sie als in seinem Metier ganz normal empfand.
Meine Ehrfurcht vor dem Wissen des PC-Experten war natürlich dahin – zu Unrecht, ich hatte einfach einen veralteten Begriff von Wissen, nämlich als „Durchschauen von Ursache und Wirkung“. Gerade das wird in einer immer komplexeren Welt offenbar unmöglich und „Wissen“ heißt heute: mit dieser Tatsache umgehen können, eine Art „Wissen als ob“.
Weiter: In grauer Vorzeit, als die Autos noch keine Elektronik hatten, fuhren meine Freunde sogenannte Schrottautos. Die hatten gelegentlich – meist mitten im Urlaub – katastrophale Pannen. Kundig schaute dann mein jeweiliger Herzbube unter die Motorhaube, ruckelte hier, klopfte da (mir sagte der Anblick nichts!) und schon WUSSTE er. Und oft konnte er mit Draht, Isolierband, Schraubenzieher und Stahlbürstchen etwas ausrichten, bzw. wußte genau, welches Teil jetzt den Geist aufgegeben hatte. Ich lernte so durch blosses Zusehen im Laufe einiger Jahre mit wechselnden Freunden viel vom Auto, allerdings eher so, wie man sich Vokabeln merkt, ohne jedes Verstehen der Zusammenhänge. Bei einer Panne konnte ich schon mal sagen: „Das ist wahrscheinlich die Lichtmaschine!“ und meinen Fahrer beeindrucken. Ha, Wissen als ob! Ich war auf dem besten Weg in die Wissensgesellschaft….
Vision: Ahnungslose vor!
Schaut man zurück in dunkle Zeiten, als das Volk noch nicht lesen und schreiben konnte, so sieht man den Aufstieg des Experten: zunächst als Schreib- und Rechenkundiger, dann als Universalgelehrter, schließlich als Spezialist. Mit der Auffächerung der Wissenschaft entstand im 20. Jahrhundert das Problem des mangelnden Überblicks, Zusammenhänge konnten nicht mehr gesehen werden von Experten, die in einem einzigen Spezialgebiet firm, doch ansonsten Idioten (=Privatmänner) waren. „Interdisziplinär“ ist seit langem das Zauberwort, doch kaum jemand schafft es, diesem Anspruch zu genügen. Niemand?
Da heute fast jeder in irgend einem Gebiet Experte ist und wir ganz allgemein ständig mit Informationen über Dies&Das zugeschüttet werden, stelle ich mir vor, daß morgen der Ahnungslose gefragt sein könnte, der Nicht-Experte. Seltene Menschen, die es verstehen, sich vor dem „Wissen als ob“ zu schützen, werden zu hochbezahlten Workshops eingeladen, wo hilflose Experten, unterstützt von vermittelnden Sprachkundigen, ihre Probleme vortragen – in der Hoffnung, den „geistig Armen“ werde spontan, auf dem Weg des ansonsten verlustig gegangenen gesunden Menschenverstands die gewünschte Erleuchtung kommen.
Die Banken und Fonds könnten die ersten sein, die einschlägige Beratergremien installieren, andere werden folgen. Und sobald die Medien darüber berichten, wie lukrativ ein Engagement als Ahnungsloser sein kann, werden Bildungseinrichtungen neuer Art entstehen: Orte, an denen es weder TV, noch Bücher oder Zeitungen und auch keinen Netzanschluß gibt. Idyllische Etablissements, einzig dazu da, um das „Wissen“ zu vergessen, die übervollen Köpfe zu entleeren. Texte sind verbannt, dafür gibt es Ballspiele, um wieder Zugang zu „Ursache & Wirkung“ zu vermitteln – und vielleicht Gartenarbeit, um die Erfahrung zu ermöglichen, wie etwas von selbst entsteht.
Mit dem Aufstieg der so ausgebildeten Ahnungslosen könnte sich die Mode verändern: Ohrstöpsel (ohne Anschluß an einen Walkman!) und Scheuklappen tauchen auf, mit denen sich die Menschen davor schützen, beim Spazierengehen unerwünschte Schlagzeilen und Fachgespräche aufzunehmen. Ein neuer Assistentenjob entsteht, da die Ahnungslosen jemanden brauchen, der als Schnittstelle zur verwalteten Welt ihre Angelegenheiten ordnet. Und diese selbst schauen nur mitleidig auf die armselige Masse herab, die mit Cyberbrille und Headset (oder entsprechenden Implantaten) allzeit online sein muß…..
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