Seit Wochen ist es hier so schön, daß es fast weh tut. Stahlblauer Himmel, ein explodierender Frühling, der jetzt in die satte, reife Phase wechselt. Alle Natur feiert ihr jährliches Fortpflanzungsfest und die Schnecken kriechen aus der Erde, um zu schauen, ob jemand mal wieder gewagt hat, einen Salat anzupflanzen, den sie sorfort verfrühstücken werden. Auch meine Intimfeinde, die Hornissen, sind schon schwer aktiv. Das unverwechselbar tiefe Brummen höre ich auf 10 Meter Entfernung, muß mir unbedingt ein Fliegengitter fürs Fenster besorgen, damit sie mich nicht wieder im Zimmer besuchen. Alte Feinde lernt man schätzen, denn sie lehren Dinge, die von Freunden nicht kommen können. Trotzdem will ich sie nicht allzu nah.
Ganz in der Nähe gibt es einen See, 10 Minuten mit dem Auto, halbe Stunde mit dem Rad. Ein Strand mitten im Wald, sogar mit einem Streifen Sand an der Wasserlinie, nur wenig Menschen. Wenn mir der Blick in den Monitor auf die Nerven geht, kann ich von jetzt auf gleich dorthin abhauen: ein bißchen Schwimmen, im Sand liegen – meine Güte, früher war all das so fern von meinem Metropolenalltag! In Berlin kostete es eineinhalb Stunden anstrengende Autofahrt durch übelsten Stadtverkehr, bis man auch nur die Stadtgrenze erreicht hatte. Dann nochmal solange „Suchfahrt“, wenn man anderes im Sinn hatte, als sich an einem lauten, von Massen belagerten Strand von nassen Hunden bespritzen zu lassen. Wie konnte ich es nur 20 Jahre im Häusermeer aushalten, mit zwei Ausflügen nach DRAUSSEN pro Jahreszeit?
Klar, ich brauchte „das Soziale“, war auf der Suche nach den „richtigen“ Mitmenschen und nach Ereignissen, irgendwelchen besonderen Ereignissen, die die Stadt mit all ihren Möglichkeiten zu versprechen schien. Doch realistisch gesehen findet sich das Wunderbare an der Stadt nur in der Literatur und im Auge des Künstlers.
Als ich letzten Sommer endlich gehen konnte, hatte ich es schon jahrelang aufgegeben, ein Nachtleben zu führen oder großartig KULTUR zu konsumieren. Durch das Netz hatte sich zudem eine neue Welt erschlossen, in der ich einen großen Teil meiner Bedürfnisse nach Sozialität sehr viel besser leben kann als etwa mit den zufälligen Nachbarn in einem Gründerzeit-Altbau, oder mit den alten Freunden aus unterschiedlichen Zusammenhängen, mit denen ich Vergangenheit teile, aber nichts mehr sonst. Ganz besonders war mir das Menschengewühl auf die Nerven gegangen, in dem ich mich täglich bewegen mußte, wollte ich mal was anderes sehen als meine vier Wände. Um so vielen Menschen zu begegnen und doch nicht zu begegnen braucht es einen besonderen Panzer, der dieses automatische Aneinandervorbeisehen ermöglicht, das emotionslose über alles hinwegsehen, das nun mal unverzichtbar ist, will man in der Stadt nicht irre werden und seiner eigenen Wege gehen.
Ich war Spitze im „Vorbeisehen“, selbst mein Lebensgefährte konnte mir auf der Straße begegnen, ich bemerkte ihn nicht. „Völlig dicht“ nach außen, zog ich meine kleinen Kreise und ignorierte einige Jahre das wachsende Gefühl, am falschen Ort zu sein. Da ich IMMER in Städten gelebt hatte, lag es lange ganz außerhalb meiner Denkwelt, das zu ändern!
Jetzt lebe ich mitten im Paradies und das Netz ist meine Stadt, eine Stadt, die alle Städte umfaßt, die wirklichen und die virtuellen der Literatur und Kunst. Hier kann ich – wenn ich mag – auch mitten am Tag ins Nachtleben einsteigen und mitten in der Nacht arbeiten. Vergleichsweise leicht finde ich Menschen, mit denen es Berührungspunkte gibt (ja, und die treff ich dann auch real, keine Sorge!). Je älter ich werde, desto anspruchsvoller werde ich in Bezug auf das Zusammensein mit anderen. Es muß schon mehr da sein als ein bißchen Hormonstress oder gegenseitige Ego-Beweihräucherung, mehr vor allem als das blosse Gefühl, nicht allein zu sein, bzw. nicht allein sein zu wollen, zu können.
Ich bin gern allein. Nicht immer, aber immer öfter. Hätte ich mir früher nie träumen lassen! Das Erleben der Virtualität des Netzes ist verschmolzen mit der immer-schon-virtuellen Welt meiner Gedanken, Fantasien und Erinnerungen. Alles liegt auf den Festplatten bereit, faktisch nur Sequenzen aus Nullen und Einsen, doch „virtuell“ sind es Welten, die zu realer Welt werden, wenn man zugreift. Auf die gleiche Art steht auch alles in der physischen Welt zur Verfügung, immer zugriffsbereit. Ich brauche nur den Willen und die richtigen Greifer – ein technisches Problem, könnte man sagen.
So hängt also alles mit allem zusammen und alles ist jederzeit für mich da – virtuell zumindest. Das ist die Hälfte der Wahrheit, die Hälfte, nach der mensch in der ersten Lebenshälfte so dringend verlangt. Die andere Hälfte kommt in Gestalt der Frage: Bin auch ICH für alles und alle zu jeder Zeit da?
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