Connie schrieb zum gestrigen Diary-Eintrag, in dem ich die Abschaffung der gesellschaftlichen Formen und Rituale bedauerte:
„Tja, das ist ein Punkt, an dem ich herumzuknapsen habe und der mich sehr beschäftigt. Wir wollten die Höflichkeitsfloskeln und das Verlogene dabei abschaffen und nun stellen wir (oder zumindest ich) fest, daß dabei die Höflichkeit selbst, nämlich der Respekt vor dem Anderen, vor der Würde und der Einmaligkeit des Anderen, vor der Unverletzlichkeit des Anderen, wenn er vielleicht gerade einmal schwach ist, auf der Strecke geblieben ist. Aus dem Muff, der unter den Talaren steckte oder in der Gesellschaft herrschte, ist ein obszönes, aggressives Klima, angeheizt von RTL und Konsorten, geworden und deren Einfluß auf die Befindlichkeit der Menschen erscheint mir fast noch gefährlicher und heftiger als der Einfluß des guten alten Axel Springer damals… Ist dieser Raubtier-Charakter, der sich überall zeigt, das WAHRE, das ECHTE? Dann Gute Nacht!“
Connies „wir“ meint die 68er, die das miefige Nachkriegsdeutschland in den Grundfesten erschüttert und unsere Kultur geprägt haben, wie keine andere Generation. 1968 war ich gerade mal 14, aber voll begeistert von dem, was um mich herum vorging. Vom Politischen verstand ich nichts, doch merkte ich, daß Eltern und Lehrer einen echten Machtverlust erlitten: das reichte mir, um mich zugehörig zu fühlen, ich probte den allgegenwärtigen Protest in der Schule und registrierte mit Freude, dass (fast) alle Lehrer weisse Fahnen schwenkten und nur noch taten, was wir für gut befanden. Eine irre Zeit!
Die Polit-Szene war zu alt und zu ernsthaft für mich, ich fand meine kulturelle und ideologische Heimat bei den Hippies: Free Love, Peace & Happyness, Bewußtseinserweiterung durch interessante Drogen, Ordnung nein danke! Wir waren die erste Spaß-Generation, Kinder der 70ger, über die ich gerade las (leider vergessen, wo), sie seien die Generation, die schon immer zu klug war, um an irgend etwas richtig zu glauben. Das ist zwar überspitzt gesagt, hat aber einen Kern von Wahrheit. Schließlich war alles schon vorgedacht, als wir aus der Kindheit auftauchten, wir mußten uns bloss unsere Rollen aussuchen und da weitermachen, wo die 68er schon viel erreicht hatten. Wo man aber nicht selber das Neue erfindet und erkämpft, entsteht auch keine tiefe eigene Überzeugung: Kein Problem, auch mal wieder umzudenken und andere Rollen auszuprobieren, wenn es ungemütlich wird.
68er-Bashing ist heute in, was niemanden wundern muß, denn jede Jugend wendet sich gegen ihre Eltern: aufgewachsen unter stetem „Traurigwütendundbetroffensein“ über Dinge, die nur medial vermittelt, aber im Alltag nicht konkret erfahrbar sind, wendet man sich ab von den ewigen Kritikern und Bedenkenträgern, die in jeder Suppe ein Haar finden, anstatt die Welt positiver Möglichkeiten aktiv zu gestalten. Das kann ich als „Zu-spät-Gekommene“ noch gut verstehen, da ich zu einem durchpolitisierten Alltag auch nie willens und fähig war. Doch bin ich andrerseits alt genug, um zu wissen, daß „das Feld positiver Möglichkeiten“ in diesem Land erst durch die 68er entstanden ist. (Unzufrieden, wie sie nun mal sind und bleiben, können sie sich natürlich nicht freuen, dass ihre Kinder es jetzt besser haben…:-)
Die Wahrheit?
„Ist dieser Raubtier-Charakter, der sich überall zeigt, das WAHRE, das ECHTE? Dann Gute Nacht!“, schreibt Conny und bezieht sich damit auf ein Essential, eine grundlegende Denkfigur der 68er: Der Mensch ist AN SICH gut und wird nur böse durch äußere Einflüsse, durch Medien, durch die Gesellschaft, das System, das Patriarchat, den internationalen Kapitalismus. Im Kampf gegen diese äußeren Bedingungen ereignet sich der Fortschritt hin zum Reich der Freiheit, in dem dann alle friedlich und solidarisch miteinander umgehen werden, weil nichts sie mehr auf schlechte Gedanken bringt.
Falsch! Wie konnten diese äußeren Bedingungen je zustande kommen, wären da nicht Menschen, die sie so und nicht anders angerichtet haben? Wie könnte ein Medium mit Horror, Gewalt und dummdreistem Nonsens überleben, wäre da nicht die Zielgruppe, die für die Quote sorgt? Die Antwort der 68er wäre das „falsche Bewußtsein“ der Massen, das auch wieder durch DAS SYSTEM generiert wird – eine Katze, die sich in den Schwanz beisst und so als reine, wenn auch gut gemeinte, Ideologie entlarvt.
Ein Punkt – jetzt mal direkt an die 68er gesprochen – scheint mir an dieser „Denke“ besonders fatal: Der Impuls, der Euch in Bewegung versetzte, war das Schweigen der Älteren, das dröhnende Schweigen der Mitläufer und der Beteiligten an den Nazi-Verbrechen. All dieses Furchtbare war kürzlich geschehen, doch niemand sprach darüber. Ihr wolltet ihnen die Masken von den steinernen Gesichtern reissen und sie zur Verantwortung ziehen. Alle Achtung! Das mußte getan werden, je früher desto besser.
Aber: Habt Ihr ihnen nicht gleichzeitig durch Euer einseitiges Menschenbild die Rechtfertigung geliefert, nach der sie suchten? Wenn der Mensch AN SICH gut ist, ist niemand schuld – nicht wir, Adolf Hitler ist es gewesen und auch der war ja nur Opfer seiner Erziehung und der „gesellschaftlichen Verhältnisse“…
Das Raubtier ist in uns, da hab‘ ich keinen Zweifel. Mensch ist gerade dadurch Mensch, dass alle Götter UND alle Teufel in ihm (und ihr!) versammelt sind. Würde, Verantwortung, Achtung – all diese Begriffe ergeben nur Sinn, wenn da ein Zwiespalt ist, wenn es in den jeweiligen Handlungen eine Wahl, eine Entscheidung für oder gegen das Raubtier gibt. Wenn wir intellektuell redlich sind, müssen wir sogar zugestehen, dass das Raubtier unverzichtbar ist, solange die Welt „fortschreitet“. Woher sonst käme die Motivation und Energie, sich mit eigenen Ideen und Interessen durchzusetzen und dafür auch gegen andere (Ihr würdet sagen: das Bestehende) zu kämpfen? Wir neigen dazu, die jeweils eigenen Interessen als das „Gute, Wahre & Schöne“ schlechthin darzustellen, weil wir uns dabei besser fühlen. Die „Ich-Generation“ hat das nicht mehr nötig, weshalb es für uns manchmal so aussieht, als werde „das Raubtier“ erst jetzt neu geboren.
So pflegt jede Generation ihre Illusionen und beeinflußt unbewußt ihre Nachkommen in die gerade NICHT gewollte Richtung. Ich denke, auch das, was heute läuft, ist nicht DIE WAHRHEIT. Mensch wird den Kult des Ego genauso satt bekommen, wie das „traurigwütendundbetroffensein“. Vielleicht werden die Kinder der Spaß-Generation zum Entsetzen ihrer Eltern auf den Konsumismus scheissen, alles Oberflächliche einschließlich Outfit, Body-Styling, Aktiendepot und Kontostand verachten und auf ihre Weise nach dem Wichtigen und WAHREN suchen.
Was bleibt, sind vermutlich die schwarzen Klamotten. :-)
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