Claudia am 09. Juli 2000 —

Nirvana

So, nach dieser kleinen Pause will ich jetzt wieder TÄGLICH Diary schreiben. Diese „Gewohnheit“ hat sich mittlerweile verselbständigt. Wenn ich mal aussetze, fühle ich das Fehlen des roten Fadens, der sich durch das Chaos dieser Welt zieht – schon komisch!
Mein Besuch ist abgereist. Wieder ist mir aufgefallen, dass die Menschen heute nirgendwo mehr ganz DA sind, sondern immer auch DORT: Das Handy verbindet auf seine verführerisch-dominante Art mit dem Überall, so dass es den Besitzer in eine Art Nirgendwo versetzt. Früher war das Reisen Abschied, Ferne, Sehnsucht, Ankunft – heute bleibt der Reisende stets in Kontakt mit seinem Herkommen und organisiert fortlaufend sein Weiterkommen. Per Internet das Auto mieten, das ab der nächsten Station gebraucht wird, Reisezeiten der Züge bei der Bahn abfragen, mit daheim Gebliebenen telefonnieren, um die Gewissheit nicht zu verlieren, dass alles beim Alten ist – der physische Körper in einem konkreten Raum bedeutet keine Beschränkung mehr. Alle und alles ist erreichbar, kontaktierbar, abrufbar, steht zur Verfügung für unseren Griff nach der Macht. Wäre da irgendwo ein Gott, der uns zuschaut, er würde sich köstlich amüsieren!

Das konkrete HIER ist zum „Content“ geronnen, der auf Filmen und Smartcards gespeichert, eingesammelt, aufgehoben, mitgeführt und anderwo wieder vorgezeigt wird: Seht, so ist es DORT! Ich war DA! Zunehmend wird dieses eigentümliche Verhalten durch die WebCams gänzlich absurd: Wenn ich direkt hinsehen kann, jederzeit, von überall – wozu noch fotografieren?

Der Protest aus den Herzen der Fotografen meldet sich lautstark zu Wort: Aber Bilder sind doch nicht nur Information! Es ist mein konkreter Blick auf den unverwechselbaren Augenblick, meine Erinnerung, ein Teil von MIR. Ja? Warum sehen dann alle Toskana-Fotos so gleich aus? Auch ich war DORT und noch liegen ein paar TYPISCHE Fotos in diesem Karton auf dem Regal, der die Dinge enthält, die ich bisher nicht wegzuwerfen wagte (kommt aber noch!). Warum sollte ich sie zeigen? Jeder weiss ja, wie Toskana aussieht, und schon mein Blick, während ich in dieser Landschaft stehe, sucht das „Typische“, die alten, von gut situierten Städtern liebevoll restaurierten Bauernhäuser, die hügelige Landschaft, die Zypressen, die mittelalterlichen Stadtteile mit den immer gleichen Häuserfassaden, grüne Fensterläden, halb geschlossen, schmiedeeiserne Balkone und bunte Wäsche – naja, so ist das halt.

Meine DigiCam benutze ich nur, wenn mir die Idee für ein technisches Bild kommt: ein Bild, das nichts abbildet, sondern etwas bedeutet, das sich mit Worten nicht sagen läßt, eines, das erst am PC zustande kommt, wo ich frei bin, den „Content“ zu inszenieren, wie ich ihn fühle. Bilder ohne Ort, wen wundert’s.

Am nächsten Wochenende werde ich nach Nürnberg fahren – wieder mal eine längere Reise mit dem Zug. Das Dasein in den Verkehrsmitteln hat eine eigene Qualität: noch nicht dort und nicht mehr hier eröffnet sich ein Raum der Stille, der deshalb erträglich ist, weil er in Bewegung bleibt: zeitgemäßes Nirvana. Was sich vorwärts bewegt, je schneller desto besser, entlastet die Insassen kurzzeitig von eigenen Bemühungen um den Fortschritt. Ruhe inmitten der Bewegung, fast fühlt man sich als Dissident, doch Bildschirme und Handys sorgen auch in den Zügen dafür, daß die Verbindungen nicht abbrechen. Das psychische Heraustreten aus dem Rennen ist nicht besonders beliebt: wer fährt schon Auto ohne das Radio einzuschalten? Selbst in den Fahrstühlen werden Netz-Terminals eingeführt, um die Aufmerksamkeit zu absorbieren, die ansonsten unverwertet dem Individuum zur Verfügung stünde, das sowieso immer weniger damit anfangen kann.

Warum sind wir heute so MOBIL? In den Städten leben viele Leute, die davon träumen, „irgendwo im Grünen“ in einem Haus mit Garten zwischen Wiesen, Feldern und Wäldchen zu leben. Doch wer da lebt, hält es kaum aus: Sonntags sitze ich mit meinem liebsten Freund auf der Schloßwiese und das ganze Schloß mit all seinen Gärten und idyllischen Plätzen gehört uns alleine. Die Mieter sind ausgeflogen nach Irgendwo, vermutlich auf der Suche nach einem MEHR, das sich vielleicht in den Städten findet, wo die Bewohner im Smog und Lärm von der ländlichen Idylle träumen.

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