Claudia am 11. August 2000 —

User und Loser

Heute morgen will meine Mailbox auf teleteaching.de weder senden, noch empfangen – macht nix, hab‘ ja mehrere. Ich schaue ins Protokoll des Mailprogramms, was denn los ist. Da steht: POP3: 07:21:45 [rx] -ERR Flush of temp pop dropbox /var/mail/.klinger.pop failed (28), und nach dem Sende-Versuch meint das Prog: SMTP: 07:22:08 Fehler – Der Server bietet den gewünschten Dienst nicht an.
Sowas aber auch! Gestern ging’s doch noch – was tun? Ich gehe erstmal raus aus der Telekom-Flatrate und versuche einen anderen Netz-Zugang (hab ja mehrere…): diesselbe Arie, daran liegt es also nicht. Ich schliesse das Mailprog, öffne es wieder: wie gehabt! Na gut, bzw. schlecht, ich schreibe an meinen Provider, kopiere ihm die Fehlermeldungen in die Mail und sende es von einem funktionierenden Account aus ab. Es wird nicht lange dauern bis zur Antwort, denn ich leiste mir keinen Billig-Webspace, sondern einen zuverlässigen Dienstleister mit überschaubarem Kundenkreis, der sich verlässlich um alles kümmert und jedem Fehler in kurzer Zeit nachgeht.

Vielleicht aber liegt der Fehler ja nicht bei ihm – ein Test diverser Webseiten auf teleteching.de und claudia-klinger.de zeigt: am Webserver ist alles ok! Trotzdem: die Wahrscheinlichkeit, dass ER weiss, was da los ist, bzw. sein könnte, ist am größten, denn er hat ja solche Fehlermeldungen sicher öfter.

Warum ich das erzähle? Täglich geschehen viele solche Fehler, mal mehr, mal weniger störend, manchmal schnell behoben – zum Beispiel durch Neustart des Computers – manchmal erfordern sie das Nachfragen und um Hilfe bitten. Am häufigsten ist der Ausfall der Internet-Verbindung, obwohl sie eigentlich noch „steht“: Nichts geht mehr, keine Website läßt sich auf-, keine Mail abrufen. Dazu sagt mir ein kundiger Freund: Da ist der TCP/IP-Stack von Windows verrotzt…. Ich will es gar nicht genauer wissen, es reicht, dass es wieder funktioniert, wenn ich Windows neu starte.

Reicht es? Ja, mir schon. Im Lauf all der Jahre mit dem PC und später mit dem Netz hab‘ ich mir Routine angeeignet, was Fehlfunktionen und Probleme angeht. Das erste, was ich dabei lernte, war: Forsche nicht nach den Ursachen, das ist sinnlos! Man liest, dass nicht einmal Microsoft-Mitarbeiter mit den kryptischen Fehlermeldungen des Blue Screen („schwere allgemeine Schutzverletzung“) viel anfangen können, ich brauch mich also gar nicht erst zu vertiefen. Fehlersuche kostet Zeit und man weiss letztlich doch nie, was es nun wirklich war. Ist aber auch unwichtig, es genügt, wenn die Kiste wieder läuft.

Was aber tut ein Anfänger, wenn ihm solches widerfährt? Zum Beispiel das oben geschilderte Mail-Problem: er (oder sie) wäre völlig aufgeschmissen! Das Mailen funktioniert nicht, was tun? Der Einsteiger hat nur EINEN Mail-Account, meist eine Standard-Konfiguration des mit dem installierten Browser verbundenen Mailprogramms. Natürlich auch nur EINEN Netzzugang. Jetzt muss er also jemanden fragen, kann das aber nur per Telefon tun oder muss warten, bis ein guter Freund vorbei kommt und sich erbarmt. Angenommen, er entscheidet sich für telefonisches Nachfragen: Ja, WO denn? Wie kann er ohne „Allround-KnowHow“ wissen, wen er anrufen muss? Den Zugangs-Provider? Den Mail-Account-Provider? (und man stelle sich vor, jemand versucht, bei GMX oder Yahoo anzurufen!), die Telekom? Oder gar den Mailprogramm-Herausgeber?

Und wir stellen uns weiter vor, dass er irgendwo in einem grossen Call-Center eines Massenproviders landet, denn er hat – na klar! – irgendwo ein Billig-Angebot gebucht. Dort hängt er in der Warteschleife bis zum Abwinken, gerät dann – vielleicht! – an einen Support-Mitarbeiter, der vor dem Problem steht, über Frage/Antwort von unserem ahnungslosen Einsteiger herausfinden zu müssen, was wohl anliegt. Solchen Support hab ich bei meinem damals 70-jährigen Vater geleistet (PC, noch kein Netz) und habe eine Ahnung davon, was das bedeutet! Wahrscheinlich wird der Support-Mitarbeiter sich diese Arbeit gar nicht machen, sondern den Anfrager kurz abwimmeln nach dem Motto: Das liegt nicht an uns, da müssen Sie sich an XYZ wenden…., wobei XYZ irgend eine andere Institution oder Firma ist, die mit dem Fehler genauso gut zu tun haben könnte.

So, jetzt geht die Mail plötzlich wieder! Anscheinend war es eine Netz-Störung, die nicht einmal mit dem Provider etwas zu tun hatte….

In der Internet World vom September ist gerade ein Artikel erschienen: Digital Divide. Es geht um die rasant zunehmende Spaltung der Gesellschaft in „User und Loser“. 70% der Bundesbürger zwischen 14 und 69 Jahren nutzen das Internet NICHT, nicht einmal zum „gelegentlichen Surfen“. Es wird immer krasser sichtbar, dass diese 70% mit zunehmender Beschleunigung ins Hintertreffen geraten: Bei Sich-informieren und Mitreden-können, bei der Jobsuche, beim Lernen, beim Knüpfen von sozialen Kontakten, bald auch im Umgang mit Behörden und Institutionen und letztlich in der Wahrnehmung der bürgerlichen Rechte. Ein Bürger, der nicht auch als Netzbürger bewegungsfähig ist, wird nur noch ein halber Bürger sein, ein Problemfall.

In dem Artikel folgen einige Interviews mit Leuten, die das Netz KAUM nutzen, obwohl sie es eigentlich wünschen. Manche können sich das Geld für den Heim-PC nicht leisten, andere haben gerade mal gelernt, ein Schreibprogramm zu bedienen – das setzt sie aber keinesfalls in die Lage, sich eigendynamisch im Internet zu bewegen und weiterzubilden. Hier zeigt sich ein Defizit, das in der ersten digitalen Revolution, der Einführung des PCs in die Arbeitswelt, einfach so hingenommen wurde: Man hat den Leuten beigebracht, mit einem einzigen Programm umgehen zu können: Excel oder Winword – oder was Spezielles wie ein Arzt-Praxis-, ein Bank- oder Reisebüro-Programm. Damit konnten die Anwender ihren Job machen, blieben aber, was das allgemeine PC-KnowHow angeht, im Status des viel bespöttelten DAU (=dümmster anzunehmender User).

Das rächt sich jetzt, denn um das Netz kreativ zu nutzen, muss man wissen, wie man mit mehreren Programmen arbeitet, muss die Grundzüge des Betriebssystems, die Festplattenstruktur, die Basics des Internet (was passiert da überhaupt?) und vieles mehr beherrschen, um überhaupt beurteilen zu können, auf welcher Ebene man gerade etwas tut, wo welche Akteure bzw. Komponenten zum Einsatz kommen, wie man sucht und findet und wo man fragen kann.

Mit halbtägigen „Schnupperkursen“ ist es nicht getan. Nur wieder ein einziges Programm zu lernen (etwa den Browser), bringt so gut wie gar nichts, ja, es frustriert nur angesichts der vielen undurchschaubaren Erlebnisse und Fehlermeldungen. Auch das Gerede von den „einfachen Geräten“, die in Zukunft jedem ins Netz verhelfen sollen, ist völlig unglaubhaft. Eine Welt aus komplexer Technik kann nicht „ganz einfach“ genutzt werden. Was da jeweils „ganz einfach“ angeboten werden wird, sind Einkaufsmöglichkeiten, wer daran zweifelt, ist ein Träumer.

Was also tun? Es einfach hinnehmen, dass der „Digital Devide“ das Volk in User und Loser spaltet? Nach dem Motto: Macht nix, wir sind ja auf der richtigen Seite?

Mir fällt dazu nicht viel mehr ein, als darauf zu drängen, dass jeder in seinem Bereich wieder mehr an den „DAU“ denkt, sich am Aufbau von Lern- und Info-Seiten beteiligt, die den wirklich Ahnungslosen etwas bieten. Und wer explizit im Bereich Online- oder Offline-Lernen tätig ist, muss sich klar machen, dass ein rein technisches Vermitteln von KnowHow eher abschreckt. Man muss bei den Wünschen und Bedürfnissen der jeweiligen Menschen anfangen und von da aus – lerning by doing – das Netz erschliessen. Streitgespräche über Sinn und Unsinn erübrigen sich so langsam. Der gern zitierte Spruch „Nicht jeder Pizza-Bäcker muss im Netz sein“ stimmt so nicht mehr. Sicher braucht er nicht unbedingt eine Website, wenn er nicht in einem stark vernetzten Stadtteil lebt, und sich auf diesem Weg Bestellungen ausrechnet. Aber als Bürger braucht er das Netz genauso wie jeder andere, der heute und morgen noch in der Gesellschaft ein JEMAND sein will, mit dem zu rechnen ist.

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