Claudia am 06. September 2000 —

Behindertengerecht?

Gestern konnte ich endlich eine meiner drei kleineren Projekt-Baustellen abschliessen. Die Site des Verbandes kleinwüchsiger Menschen ist fertig (aber noch nicht online). Zu diesem Auftrag bin ich gekommen, als ich neulich hier mal ganz allgemein über grottenschlechte Websites vom Leder zog. Wer den Mund voll nimmt, muss dann halt auch hinlangen, beraten, dabei helfen, es besser zu machen. Mein Entwurf ist gut angekommen und ich hab‘ selber einiges gelernt, für das ich mich ansonsten nie interessiert hätte: Über 100.000 kleine Menschen leben in Deutschland, die nur zwischen 80 und 150 cm groß sind. Ist es nicht seltsam, dass man sie so wenig sieht? Das Netz enfaltet hier wirklich einen seiner schönsten Aspekte: Behinderte, Kranke, mehr oder weniger diskriminierte Minderheiten können sich finden und in Selbsthilfegruppen austauschen. Ein unglaublicher Zuwachs an Möglichkeiten, die auch ganz real in der Lage sind, das Leben zu verändern.

Um auf dem Selbsthilfe-Server zu bestehen, musste ich die Website mit dem Programm Bobby 3.1 auf Verwendbarkeit für Blinde und Sehbehinderte testen. Erstmal war das Ergebnis katastrophal und ich hatte einiges zu ändern, bevor es endlich hieß: „This web page does not contain any Priority 1 accessibility errors that Bobby can detect“. Normalerweise baue ich Webseiten „so schön wie möglich“, und das heisst, ohne große Rücksicht auf schlechte Technik und schon gar nicht im Gedanken an Blinde! Dieses ignorante Verhalten ist traurig und politisch unkorrekt, aber erstmal ist es die Ausgangsbasis, von der ich komme und mit der ich gewiss nicht allein bin. Umso lehrreicher, hier mal wieder mit der Nase darauf gestossen zu werden, dass es Menschen gibt, denen es nicht so sehr um SCHÖN geht, ja, gar nicht gehen kann, sondern eher darum, überhaupt etwas zu sehen!

SCHÖN ist zum Beispiel dieser per CSS hergestellte erweiterte Zeilenabstand, den ihr gerade genießt. Leiser muss er in einer festen Punktgröße angegeben werden. Wenn sich also jemand die Schrift SEHR GROSS einstellt, überlappen sich evtl. die Zeilen und es wird unlesbar. Ich meine, es hier gerade noch vertreten zu können, da auch mit der größten Explorer-Schrift die Zeilen zwar eng, doch noch nicht überlappend dargestellt werden. Es soll aber Surfer geben, die sich die Schrift mehrzentimetergross (!) einstellen müssen, dann ist natürlich Ende mit dem Diary-lesen. In meiner Auftrags-Site hab ich auf den CSS-Zeilenabstand verzichtet – aber HIER kann ich mich noch nicht recht überwinden, noch immer nicht!

Es geht darum, sich selbst und der großen Mehrheit etwas vorzuenthalten, was nicht besonders wichtig ist, zugunsten einer Minderheit, für die diese Unterlassung SEHR WICHTIG ist. Warum fällt das so schwer? Ich stelle mir zum Beispiel vor, dass „die Mehrheit“, also die meisten Leser und auch meine tatsächlichen und potenziellen Auftraggeber auf meine behindertengerechten Seiten schauen würden und einfach denken: die KANN es wohl nicht schicker machen! Anders wäre die Lage, wenn ich selber blinde oder sehbehinderte Freunde / Bekannte hätte: konkreten Menschen hilft man leichter als einer unbekannten Anzahl, von der man nur WEISS. Der aktuelle Auftrag hat mich immerhin motiviert, mich überhaupt mit diesen Fragen zu befassen und ich denke ernsthaft darüber nach, meine Seiten entsprechend zu verändern. Es wird sicher einen Button geben, den ich dann draufpappen kann, damit klar ist, warum dieser oder jener Schnickschnack fehlt.

Soziale Problematiken wie diese schiebt man gerne weg, indem man eine technische Lösung fordert: Soll doch das W3-Consortium eine CSS-Spezifikation verabschieden, die einen flexibel sich anpassenden Zeilenabstand bietet! Das ist jedoch Augenwischerei: Immer wird die vorderste Technik, die neueste Errungenschaft NICHT auf Behinderte Rücksicht nehmen, sie werden immer vertröstet, müssen immer erst um alles kämpfen.

Wenn ich mir allein nur vorstelle, lebenslang an ein bestimmtes Thema (die eigene Behinderung) gebunden zu sein, wird mir ganz anders! Und das, obwohl (oder gerade weil?) ich zeitweise an dem Luxusproblem kranke, KEIN bestimmtes Problem zu haben und nicht so recht zu wissen, was in diesem Leben anfangen. Damit geht es mir genauso wie der Mainstream-Allgemeinheit in den entwickelten Ländern: Wir fragen uns, WOHIN wir mit allem, was wir haben und können NOCH hinstreben sollten (Malediven? Mars? Vorstandsetage? Erleuchtung?), was wir NOCH erreichen könnten – und packen es einfach nicht, in einer sinnvollen Weise jenseits neurotischer Helfersyndrome dem übergroßen „Rest der Welt“ dabei zu helfen, überhaupt auf ein physisch erträgliches Niveau zu kommen.

Was ich nicht mehr anstrebe ist, die Dinge zu bemänteln und grosse Reden zu schwingen, überall Unterschriften zu leisten und lautstark technische oder administrative Lösungen zu fordern, die mich selbst gewiss nichts kosten. Mit dem KOPF alleine lassen sich schöne Texte schreiben, die auf dem Papier oder im Digital die eigene Zugehörigkeit zu „den Guten“ demonstrieren sollen. Aber wem ist damit geholfen? Ich schaue lieber in mich hinein und betrachte, was ich tatsächlich bin. Dann erwische ich vielleicht Momente und Aspekte, wo ich auch mal anders fühle und handle, und kann versuchen, diese Momente auszudehnen, ihre Bedingungen zu erforschen und wiederholend anzuwenden – nicht immer, aber immer öfter.

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