Freunde des Digital Diary werden es begrüßen: die Chancen stehen gut, dass ich zum „täglich neu“ zurückkehre. Nach einer lockeren Woche mit nur wenigen Einträgen stelle ich nämlich fest, dass mir die regelmäßige Schreibzeit fehlt. Sie schafft einen Raum außerhalb des Alltags, den ich sogar mit Anderen teilen kann – und sie dient der Strukturierung, stabilisiert mein Leben, das ansonsten fast keine Termin-Zwänge kennt. Regelmäßig schreibend kann man sich viel erlauben, vielleicht sogar, in aller Ruhe verrückt zu werden. :-)
Womit ich beim Thema bin, auf das mich ein Leser (Hallo Tobias!) gebracht hat, der im Forum zu meinem letzten Beitrag über die Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren, schrieb:
„Es gibt dafür einen plausiblen Begriff, ADD Attention Deficit Disorder. Es handelt sich um einen „anderen“ Wahrnehmungsstil. Ca. 10% aller Menschen haben wohl ADD. Es führt zum Einen dazu, dass man Dinge wahrnimmt, die keinem „normalen“ Menschen aufgefallen wären, zum Anderen jedoch Probleme hat sich auf nur ein einziges Ding zu konzentrieren. Dies führt dazu, dass man sich im Beruf eingezwängt (eingespannt) vorkommt, wenn man Freiheit hat jedoch ein enormes Maß an Selbstdisziplin benötigt um überhaupt etwas zu Ende zu bringen.“
Beruhigend, so eine Diagnose, nicht? Eben noch befand man sich in Verwirrung, stellte sich bohrende Fragen über Dinge, die eigentlich selbstverständlich oder banal sind, das Alltägliche drohte, sich ins Fragwürdige, ja Beängstigende aufzulösen – doch keine Panik, Rettung naht: DAS IST DOCH NUR ADD!
„Ach wie gut, dass niemand weiss, dass ich Rumpelstilzchen heiss!“. Erinnert ihr euch noch an die alten Märchen, in denen der Held DEN NAMEN des feindlichen Geistes erraten mußte? Durch das Aussprechen des Namens war der Bann gebrochen, die Macht des Fremden und Unberechenbaren erloschen, der Held hatte gewonnen. In diesen Märchen teilten die Alten den Jungen jenseits intellektueller Diskurse ihr Staunen über die Macht des Wortes mit, und gleich in Form einer nützlichen Gebrauchsanweisung: Finde den richtigen Namen und alles wird gut!
Heute wissen wir, dass nicht die Dinge einen Namen haben, sondern dass wir es selber sind, die die Namen erfinden. In diesem Job haben wir Gott beerbt, der vor seinem Tod die Aufgabe hatte, jeder Art und jedem Wesen den eigenen Namen zu geben. Wir WISSEN – das schreibt sich so locker hin! – doch leben wir nach wie vor in der alten Magie, die immer noch wirkt, sogar dann, wenn man nicht mehr daran glaubt.
Da hat jemand Probleme, sich durch die vervielfachten Möglichkeiten und Anforderungen des Internet-Zeitalters zu schlagen: ADD! Andere schaffen es einfach nicht, Worte und Sätze interessanter zu finden als die Welt da draussen: Legasthenie! Wieder andere sind traurig und verzweifelt, weil all ihre Freunde gestorben sind und niemand mehr da ist, mit dem sich ein Gespräch lohnt: Altersdepression!
Das beruhigt und läßt die Dinge beherrschbar erscheinen. Wir bleiben nicht allein mit unbeantwortbaren Fragen, sondern werden Teil einer Gruppe „Betroffener“. Das Zauberwort der Wissenschaft heisst „Das ist doch nur“, es erschließt Handlungsmöglichkeiten, Therapien und Medikamente und kurbelt so die Wirschaft an. Vordergründig. Hintergründig geschieht etwas ganz anderes als in den Zeiten der Märchen: Wir werden durch das WORT nicht nur ermächtigt, sondern auch entmachtet. Sobald sich das Bild einer Krankheit über einen Teil meines Wesens, einen Bereich meines Lebens legt, werde ich vom Täter zum Opfer, vom Subjekt zum Objekt. Die Sachverständigen, die Professionellen und Berufenen, die Ärzte, Neurologen und Psychologen werden es schon richten. (Wenn sie es doch nur schafften, dann wäre ja alles wunderbar!)
Die „Hysterie“ war um die vorletzte Jahrhundertwende eine Bezeichnung für Reaktionen von Frauen auf ihre eingeschränkten Lebenschancen. Die Gesellschaft konnte nicht hinnehmen, dass eine „normale Frau“ angesichts ihrer Lage ausrastete – also war sie KRANK, bzw. ver-rückt. Wenn sich in einer Gesellschaft nun sehr schnell sehr viel ändert, kann es sein, dass auf einmal recht breite Kreise eine ver-rückte Selbstwahrnehmung haben – das kollektive Zurecht-rücken, die Verständigung darüber, was normal ist, hinkt der Aktualität weit hinterher.
Ich bin ehrlich gesagt ganz froh, in einer solchen Zeit zu leben! Die sozialen Masken, die die Menschen tragen, sind schnell zusammengezimmerte Provisorien und keine fest gegründeten Mauern. Der Firnis der „Normalität“ ist dünn – das ist gefährlich, aber auch spannend. Die Fragwüdigkeit allen So-Seins verunsichert den Einzelnen, niemand hat mehr Zeit, sich in festen Beständen einzurichten, tradiertes Wissen und intellektuelle Erkenntnisse nutzen nicht viel, zu jeder Frage und zu jedem Problem gibt es ja unzählige wohl begründete Meinungen – wonach sich richten?
In dieser Unsicherheit, in diesem „Nichts“, kommen wir der Wahrheit nahe, der urmenschlichen Wahrheit, die in einer Formulierung von Hölderlin über diesem Diary steht: „Ein Zeichen sind wir, deutungslos“. Wir stehen immer am Abgrund und die Chancen, jemanden zu treffen, der das auch so sieht, sind heute größer denn je. Die Einsamkeit, die in diesem erlebten Wissen liegt, schafft eine Gemeinschaft, die jenseits aller „sozialen Probleme“ ihren Ort hat, eine Community, die keine Kommunikation mehr braucht, sondern sich – wenn überhaupt je – in Kommunion realisiert. (Wie weit wir im realen Leben davon entfernt sind, sehen wir an der Chancenlosigkeit des Kommunismus).
Wer jetzt denkt, ich wäre ständig der Wahrheit nahe, sitzt der Magie der Texte auf. Schreiben und leben sind NICHT eins. Wenn es mir schlecht geht oder wenn ich Angst habe, ist mir fast jedes Mittel recht, das zu ändern. Ich habe keine Bedenken, die zeitgemäße Magie anzuwenden, wenn ich sie brauche. Zum Beispiel ist es mir wesentlich lieber, wenn mein Lebensgefährte von seinem chronischen Serotoninmangel spricht, als wenn er darüber philosophiert, ob nicht die Zeit des Abtretens gekommen ist…
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