Gerade mache ich eine seltsame Erfahrung: Vor etwa acht Monaten entwickelte ich zusammen mit einem Freund ein Webmagazin. Es handelt vom Schreiben und Gestalten für’s Web – und zwar mal NICHT mit dem Blick auf all die Könner, die seit 1996 oder früher ihre Seiten selber bauen und sämtliche Entwicklungen mitgemacht haben (für sie gibt es genug gute Quellen, z.B. Dr.Web auf ideenreich.com). Es soll Einsteigern dienen und keine reine Technik-Vermittlung sein, weder hauptsächlich HTML noch reines „Design“ lehren, sondern vom Inhalt ausgehen, vom Bedürfnis des Einzelnen, sich mit seinen Interessen und Vorhaben angemessen im Web zu präsentieren.
Schließlich ist der Einstieg heute kein Spiel mehr, viele merken, dass sie eine Website brauchen und können es sich nicht leisten, damit erstmal in tausend Fettnäppfchen zu treten. Entscheider, Unternehmer, Freiberufler, Künstler, Wissenschaftler und Autoren, die in ihrem jeweiligen Feld „Cracks“ sind, haben keine Lust, völlig undurchdacht mit dem ersten besten „Ihre Homepage in zehn Minuten“-Tool etwas zu produzieren oder von Nachbars Sohn produzieren zu lassen, von dem sie nicht wissen, was es eigentlich ist, sein sollte, sein könnte. Eine Agentur zu beauftragen, ist für die meisten überarrangiert, und auch dort müßten sie ja nehmen, was ihnen geboten wird, ohne selbst dabei medienkompetent zu werden.
Kurzum: Das Magazin war schon relativ weit gediehen: Design, Rubriken, Leitseite, ein paar Artikel standen. Da kam uns ein größerer Auftrag dazwischen, der dieses Vorhaben erstmal in die Schublade verbannte. Als wir uns jetzt der Sache wieder zuwandten, musste ich mit Staunen feststellen: Es ist nichts so, wie ich es heute tun würde! Zwar nicht richtig schlecht, aber irgendwie nicht „zeitgemäß“. Die Struktur zu umständlich und arbeitsaufwendig, die Artikel zu langatmig, das Design, obwohl schlicht, viel zu raumgreifend…. ich kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus, wie sehr sich in dieser (kurzen? langen?) Zeit mein Empfinden zum Bereich Webwriting verändert hatte.
Ein eigenes Werk aus solch zeitlicher Distanz wieder anzusehen, ermöglicht eine objektivere Beurteilung. Ich begegne diesen Seiten plötzlich genauso, wie ich anderen Webseiten begegne, und sehe: So nicht! Was sich seither im Web ereignet hat, ist Verdichtung und Beschleunigung – mit Auswirkungen auf Schreibweise, Navigation, Design und vor allem auf die Strukturierung eines Themas mittels Hypertext. Oberflächlich betrachtet begegnen wir im Web vielen Artikeln, die scheinbar nichts mit Hypertext zu tun haben. Wenn man aber genauer hinsieht (und wenn sie GUT sind), dann sind sie durchaus nach innen und aussen vernetzt, durch Vertiefungen nach innen (Kästen, Ablegerseiten…) und aussen (kommentierte Links) ergänzt. Und sie stehen oft in einem Bereich, der das Thema umfassend darbietet.
Endgültig vorbei die Zeit, zu der ein Leser vom Autor linear an ein Thema „herangeführt“ und hindurchbegleitet wurde. Dafür haben wir keine Zeit und sind auch zu verschieden: Der eine hat dieses Vorwissen, der andere kennt jene Aspekte schon oder braucht sie gerade nicht. Die Gewohnheit, nur noch das zu lesen, was man lesen will, ist Mainstream geworden und bedarf entsprechender Gestaltungen. Wer sich dem verweigert, hat Probleme, genau wie die Musikindustrie, die viel zu lange an ihren vorgefertigten CDs festhält und nicht akzeptieren mag, dass wir uns die Musikstücke selber zusammenstellen wollen.
Hypertext dient der Individualisierung und der Beschleunigung. Primitive oder chaotische Anwendungen, vor allem im (netz-)literarischen Bereich, haben viele abgestossen und auf den Gedanken gebracht, Hypertext sei eine nutzlose Kopfgeburt. Weit gefehlt. Hypertext ist das Web – und jede kleinste Einheit darin muss sich des grossen Hypertextes bewusst sein, in dem sie steht und auf dessen Traditionen sie angewiesen ist.
Ist es nicht furchtbar, alles immer schneller werden zu sehen? Sich dem auch noch anpassen zu sollen? Ich sehe es so: Wir haben normalerweise nichts dagegen, wenn der neue Zug deutlich schneller fährt als das alte Modell. Schließlich sitzen wir nicht drin, weil wir uns gern in diesen Großraumwagen aufhalten. Und wir sind schlicht fantasielos und selber schuld, wenn wir die gesparte Zeit nicht nutzen, um in der Zielstadt einen gemütlichen Bummel durchs historische Zentrum zu machen, sondern statt dessen den Terminplan enger fassen!
Schnelle Wissensvermittlung, kurze und klare Informationen, warum nicht? Wenn wir dann unterhalten sein wollen oder ‚was Nachdenkliches lesen, gibt es dafür ebenfalls Websites, die das in Reinform bieten: zum Beispiel dieses Diary, das immerhin vielen ein paar „zweckfreie“ Minuten täglich wert ist.
Diesem Blog per E-Mail folgen…