Mit Mitte 40 redet sie vom Alter? Vielleicht hat sich mancher gewundert, als ich gestern schrieb: „Vielleicht bin ich endlich zu alt, um über Alternativen zu grübeln…“. Doch ich meine es schon ernst, jedenfalls ernst genug für ein längeres Gedankenspiel.
Zu einer anderen Zeit oder in einer anderen Kultur wäre ich jetzt schon die zahnlose Oma, die keifende oder die weise Alte, je nachdem. Jedenfalls nicht „in den besten Jahren“, wie es heute heisst und doch in all dem medial vermittelten „Jugendwahn“ nicht ganz ernst gemeint wird. Heute wollen zwar alle alt werden, aber niemand will alt sein. Die Alten darf man nicht mehr so nennen, sie heissen „Senioren“, besser noch „agile Senioren“. Wo die Oberfläche schon fast alles ist, müssen über 60-Jährige aussehen wie 30, wenn sie noch auf einem Bildschirm erscheinen wollen: Cher, Tina Turner – müssen sie sich nicht furchtbar vorkommen, wohl wissend, dass sie ohne die Kunst der Schönheitschirurgie nicht das wären, was sie sind?
Mir könnte das alles egal sein. Es ist nämlich ein angenehmer Aspekt am Älter-werden, dass man damit aufhört, um jeden Preis ankommen zu wollen. Personalchefs wissen das und ziehen deshalb Jüngere vor: die sind noch so voller Ehrgeiz und Sehnsucht nach Anerkennung, dass sie fast beliebig und bis an die Grenzen ihrer Power einsetzbar sind. Ältere dagegen entwickeln andere Werte: die je eigene Lebensqualität, das JETZT steht mehr und mehr im Vordergrund, nicht abstrakte Ziele oder Zahlen, Bankkonto, Statussymbole, Konsum, Zukunft. Mit welchem Speck soll man alte Mäuse locken, die schon zigmal zugesehen oder selbst erlebt haben, wie die Falle zuschnappt?
Hier liegt der Knackpunkt, der tiefere Grund für die Entwicklungsstörung unserer Gesellschaft, die zwar faktisch altert, aber das Altern ablehnen muss: Geistiges Wachsen, über das Materielle und die schönen Körper und Oberflächen der Warenwelt hinaus, ist nicht angesagt. Es würde die Wirtschaft in Gefahr bringen, die auf den schnellen Wechsel der Moden und Produkte angewiesen ist. Lieblingszielgruppen der Warenwelt sind dem entsprechend die Jungen, neuerdings zunehmend Kinder, die aus Spieltrieb und Experimentierfreude alles mitmachen, nur weil es NEU ist. Heute Teletubbis, morgen WAP.
Die INTEL-Aktie ist ja neulich dramatisch abgestürzt. Vielleicht ein erstes Zeichen, dass sich etwas ändert: der Kreis derjenigen, die sich allein schon deshalb einen neuen PC zulegen, weil es wieder mal einen SCHNELLEREN PROZESSOR gibt, ist vermutlich geschrumpft. Was bringt auch ein neuer Prozessor, wenn die Daten nicht schnell genug übers Netz kommen? Mangelnde Bandbreite bremst als technischer Flaschenhals die ungestüme Jugend aus, deren Lieblingsgeschwindigkeit in den Kinofilmen in Gestalt der vielen Explosionen zu besichtigen ist. Es wird noch eine Zeit lang dauern, bevor sich auf den Monitoren das gleiche abzeichnet wie in den schnellen Schnitten aktueller Filme und Videos: Ein Eindruck, gerade so lange bzw. so kurz, um ihn in die Wahrnehmung zu drücken, dann sofort der nächste. Nur keine „Längen“, bloss keine Lücken, da könnte ja ein Gedanke aufkommen und der könnte in die Leere führen (die fürchtet man heute weit mehr als Kritik).
Bevor dieses Gedankenspiel endlos von diesem zu jenem driftet: Ich empfinde das Älter-werden als Abenteuer. Es bietet nämlich das einzig NEUE, das bleibt, wenn das Übliche (der Speck, die Falle, das Rattenrennen…) nur noch zum Gähnen reizt. Nicht schnellere und immer neue Prozesse, sondern ein Zooming-In in jeden einzelnen Prozess, das ganz neue Welten der Wahrnehmung, der Gedanken, Gefühle und Aha-Erlebnisse erschließt. Schau auf deine Hand: Nichts Besonderes, langweilig, 1000 mal gesehen. Aber sieh mal durch ein Elektronenmikroskop! Da siehst du Neues, sogar VIEL Neues – nur eines siehst du nicht mehr: Dass es DEINE Hand ist.
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