Wenn ich mir die Texte der letzten Tage so durchlese, wirken sie wie eine Art beschleunigtes Altern: Keine Motivation, Überdruss, auch Traurigkeit. Das ist der HERBST, das Sterben der Natur, von dem ich nicht unabhängig bin, hier draussen noch viel weniger als in der Stadt.
Ein Jahr ist wie ein Leben: Im März erwachen die Lebensgeister, die Starre des Winters weicht, alles ist spannend und irgendwie lustig, Lachen liegt in der Luft, man freut sich wie ein Kind. Wenn dann im Mai die Natur explodiert und ihre Orgie feiert, kommt das Verlangen, ein mehr oder weniger heftiges Getriebensein, mal Lust, mal Schmerz und Sehnsucht – eine Art Pubertät. Der Sommer kommt vergleichsweise ruhig: Auf dem Gipfel der Kraft kann man viel tun, fühlt sich stark und unabhängig. Der Körper ist nicht gefordert, große Temperaturunterschiede zu bewältigen, alle Energie steht zur Verfügung, für was auch immer. Und dann der Herbst, das Sterben beginnt, schleichend verschwindet die Kraft, die Selbstverständlichkeit entweicht aus allen Aktivitäten. Jedes Ereignis wirft Sinnfragen auf und man fühlt sich immer verletzlicher, melancholisch, mutlos. (Die Alten haben dagegen die Dankbarkeit für die Ernte gesetzt, das haben wir leider verlernt). Im Winter ist es schließlich überstanden: alles ist tot. Die Probleme des Lebendigen, das Wachsen, Expandieren und Konkurrieren erscheinen nur noch als ein Tanz der Nebensächlichkeiten. Klarheit und Konzentration wachsen, man sieht die Dinge, wie sie sind, ohne den eigenen Verstrickungen zu erliegen. Stille, Dunkelheit – und am tiefsten Punkt dann auf einmal das Licht…
Mit so einer kleinen Meditation baue ich mich auf. Schreibend stellt sich Distanz her zu aktuellen Freuden oder Leiden, der lineare Ablauf der Sätze ergibt mühelos kleine Gedankengebäude, die ohne Schreiben vielleicht nicht zustande gekommen wären. Und wenn eines fertig ist, steht es da in der Welt der Worte und entfaltet doch seine Wirkung, vermittelt ganz reale Gefühle. Das ist die Magie des Schreibens. Sie wirkt, wie alle Magie, vor allem auf den Autor selbst und nur zufällig auf einen Leser, der sich vielleicht gerade in einer ähnlichen Verfassung befindet.
Es ist nicht leicht, die schwarze Variante dieser Magie zu unterlassen. Sie ist so naheliegend und viel unterhaltsamer als die weisse. Leicht vergißt der Schreibende, dass er selbst sein erstes Opfer ist, wenn er die Worte nur benutzt, um sich auszukotzen, seine dunklen Gefühle und Verzweiflungen, seinen Menschenhass und seine Verachtung als Texte in die Welt zu setzen. Wenn ich mich mies fühle, neige ich dazu, nur das Miese an meinen Mitmenschen zu sehen, das Trennende zu betonen und mit vielen Worten immer wieder dasselbe zu schreiben: Ich bin ja so ANDERS, soviel besser, wahrer und klarer….
Zunächst wirkt das erleichternd, genau wie auf den Tisch hauen oder mit dem Fuß aufstampfen. Aber dann verstärkt der Text mit all seiner Macht die Empfindung, unter der man doch gerade leidet: Das Getrennt-Sein, die Einsamkeit. Wer nur immer den Abstand, das Gefälle zwischen sich und dem Anderen sieht, der baut dadurch eben diesen Abstand immer stärker aus. Und weil sich ja JEDER irgendwo besser und anders fühlt, bekommt man sogar Zuspruch, das Publikum applaudiert, die Auflagen, Zugriffe und Einschaltquoten steigen. 90 Prozent des medialen Geschehens funktioniert nach diesem Muster, selbstverständlich unter der Fahne der Aufklärung, Wahrheit & Klarheit, hier wird endlich gesagt, was Sache ist…
Ich vermute, das Kennzeichen großer Literatur ist ein anderer Umgang mit diesem Spannungsfeld. Begnadete Autoren vermögen es, nicht die oberflächliche Gemeinsamkeit im Anders-Sein und vor allem Besser-Sein anzusprechen (oder wenn, dann nur als erstes Lockmittel), sondern die Leser in die eigenen Tiefen, die unverstellten und ungerechtfertigten (!) Widerlichkeiten eines jeden Individuums zu führen und DORT die Gemeinsamkeit herzustellen – eine Gemeinsamkeit im Leiden am eigenen Negativen, die dann als solche ins Positive umschlägt.
Das erinnert mich gerade an eine berühmte Szene in der Baghavadgita: Arjuna, der Held, muss in einem Krieg gegen Verwandte kämpfen und packt es nicht, loszuschlagen. Da erscheint ihm Gott und sagt: „Tu deinen Job, nimm dein Schicksal an – wenn Krieg ist, ist eben Krieg!“ Und Arjuna hört, folgt und greift zu den Waffen gegen die eigenen Brüder.
Dieser Text ist deshalb ein heiliger Text, weil er vor einigen tausend Jahren ungeheuer wirkungsmächtig war, NOT-wendig. Offensichtlich wurde zu dieser Zeit gelernt, höhere und abstraktere Ziele über das Verwandt-Sein zu stellen. Mir scheint, heute ist es umgekehrt: Wir kennen seit langem nur noch abstrakte Ziele (Zahlen, Zukunft…) und führen ständig Krieg, auch gegen den liebsten Freund. Heute wäre also ein anderer Text der heilige Text, einer der mit aller Macht, deren Worte fähig sind, in die Herzen schreibt: „Hallo du Held, diese Unmenschen da drüben, das sind alles Verwandte!“
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