Claudia am 07. Oktober 2000 —

Alt werden II

Wie sehr mich doch so eine kurze Tour wie der 3-tägige Berlin-Trip aus der Spur bringen kann! Ich brauche immer einen vollen Tag, um anzukommen, erst der darauffolgende Tag ist wieder halbwegs normal. Früher war das anders: mit zwanzig, dreissig hatte ich noch gar nichts „Eigenes“, lebte auch zuhause, als wäre ich auf einer Reise, immer unterwegs, immer unter Leuten, ununterbrochen redend, denkend, wünschend und planend. Alle Energie drückte nach außen, ließ mich in die Welt wachsen. Umgekehrt spürte ich nur wenig, fast nichts. Da mußte schon ein richtiges Drama kommen, oder ein Unfall, eine Krankheit, bevor ich mich mal mir selber zuwendete. Oder ich probierte es mit Drogen, die verläßlich das Bewußtsein veränderten, möglichst spektakulär, möglichst heftig, alleine vermochte ich nichts anzufangen mit den langweilig scheinenden Eindrücken des Real Life.

Heute wünsche ich mir manchmal eine Welt ohne Forderungen, eine gemütliche Welt ohne all das, was in den Nachrichten verhandelt wird und was man auf die Frage „Was machst du so?“ sagt. Nicht, weil ich es nicht leisten könnte, mein Auskommen und auch mal einiges mehr zu erwerben, das lernt sich im Lauf der Jahre. Aber es wird weniger interessant. Der Glaube, da verberge sich ein großes Geheimnis, da sei etwas zu finden, was ich im Grunde meines Herzens suche, ist ohne Abschiedsparty verschwunden. Statt dessen gewinnen die ganz gewöhnlichen Eindrücke an Kraft, Regen, Sonnenschein, der Gesichtsausdruck eines Passanten, die Stimme des Freundes, die Schmerzen, wenn ich zu lange auf einem Stuhl sitze – und die Pflanze, die ich neulich wegen formlosen Herumwucherns völlig kahl geschnitten hatte, hat schon wieder neue Blätter, welch ein Wunder!

Diese Veränderung ist physisch gesehen die Folge der energetischen Schwächung, die einsetzt, sobald der Gipfelpunkt des Wachstums überschritten ist und der Weg Richtung Ende beginnt. Wenn man gestorben ist, übernimmt dann endgültig die Umwelt die Herrschaft, die Würmer und Bakterien machen sich über den Rest her. Doch schon lange vorher verstärken sich die Einwirkungen. Ein blauer Fleck bleibt bei 15-jährigen nur ein paar Tage, Mitte vierzig hält er einige Wochen, im Alter viele Monate.

Dass das Altern heute als Übel angesehen wird, ist die Folge der wirtschaftlichen Hektik. Es braucht dafür diesen Geist der Jugend, der einfach voran und nach draussen will, um dies & jenes zu erobern. Und nicht nur die Arbeitenden selbst müssen in diesem Bewußtsein agieren, sondern mölichst ALLE. Unsere High-Tech-Welt braucht ja jede Menge Konsumenten, um die schnellen Produktzyklen zu ermöglichen, der Mensch hat Verbraucher zu sein und sonst gar nichts, damit alles seinen beschleunigten Gang gehen kann. Andere Werte sind da gefährlich, um Himmels Willen, es wäre eine Katastrophe, wenn auf einmal viele einfach zufrieden wären, bzw. ihre Unzufriedenheit nicht mehr im Aussen zu verändern suchten!

In Wahrheit ist das Altern eine Befreiung vom Stress. Und es setzt nicht erst mit 65 ein, sondern lange vorher. Dass diese Welt mehr und mehr auf Stress baut, ist im Grunde IHR Problem, nicht das der Menschen, die nun einmal älter werden. Deren, bzw. unser Problem, ist, dass uns der Genuss am Alt-werden verweigert werden soll, wir sollen unsere schwindenden Kräfte darauf konzentrieren, äußerlich jung (und innerlich naiv) zu bleiben, anstatt die Qualitäten späterer Jahre zu entwickeln und in der Gesellschaft auch zu vertreten. Ich bin ja gespannt, wie sich da die allgemein GEFÜRCHTETE demoskopische Entwicklung auswirken wird. Was da nämlich gefürchtet wird, sind WIR. Nicht die Alten, die wir heute kennen, die Wirtschaftswundergeneration, sondern die 68er und Post-68er, die es nicht gewohnt sind, alles mit sich machen zu lassen, was „von oben“ oder vom „Markt“ für richtig befunden wird.

Die heute Alten sind im Durchschnitt wohl versorgt. Sie haben, was sie wollten und was vielen von ihnen einzig wichtig war: materielle Sicherheit und einen gewissen Lebensstandard. Wir Over40s und alle folgenden Generationen werden nicht ansatzweise so viel und verläßlich Rente bekommen – und damit können wir nur leben, wenn wir ANDERS altern als die vor uns. Ich halte es zum Beispiel für normal und natürlich, dass man in späteren Jahren nicht mehr soviel Einkommen, Gegenstände, Vermögenswerte und äußere Macht braucht. Das ganze Gerechne in der Werbung um die „Versorgungslücke“ ist falsch. Der einmal in der Lebensmitte erworbene Standard muss NICHT gehalten werden bis ins Grab, sondern nach und nach losgelassen, abgelegt, mit Freude verabschiedet. Immer sensibler werden, mehr spüren, mehr sehen, mehr empfinden eröffnet ganz andere Ekstasen, die all das nicht brauchen.

Das funktioniert aber zum Beispiel nicht, wenn – wie heute üblich – Erwachsene ab der Lebensmitte pro Jahr im Schnitt um ein Pfund oder Kilo zunehmen. Wenn wir uns der Welt des Sich-fett-fressens und Zudröhnens nicht entziehen, können wir keine anderen Lebensqualitäten entwickeln und unsere Körper machen immer mehr Ärger, anstatt ein Instrument feinerer Wahrnehmung zu werden. Wir werden uns und anderen eine Last, letztlich ein Pflegefall – und um das „sozialverträglich“ zu gestalten, braucht es tatsächlich jede Menge Geld. Geld, dass viele von uns nicht haben und nicht haben werden, weil es uns nie so wichtig war, wie denen vor uns. Ist es aber wirklich anzustreben, ein wohl-versorgtes Problem zu sein? Seine Tage mir Gesprächen über die eigenen Krankheiten und Klagen über die schlimme Welt zu verbringen?

Ich halte mir hier selber Reden, nicht etwa anderen! Fühle mich hin- und hergezogen zwischen der alten Fress- und Expansionsmentalität und einer anderen Lebensart, die ich erst in Ansätzen erkenne. Noch immer rauche ich, verfalle gelegentlich dem Rotwein und esse zu viel: bewusstseinsdämpfende Schmiermittel, um SO weiter zu funktionieren, wie gehabt. Weil ich mir nicht recht vorstellen kann, wie es anders gehen könnte. Wenn ich das alles nämlich nicht tue, verändern sich meine Interessen schneller, als ich meine Ökonomie nachziehen kann. Schließlich kann ich nicht irgendwohin aussteigen, auch psychisch brächte ich das noch nicht fertig. Manchmal bin ich neidisch auf Schriftsteller. Nicht auf diese angestrengten Literaten, die sich in einem Literaturbetrieb als ganze Person vermarkten müssen, sondern Leute, die zur Unterhaltung schreiben, Krimi-Autoren zum Beispiel. Das scheint mir ein schöner und gut lebbarer Altersjob zu sein. Sehr konzentriert an EINER Sache arbeiten, nicht nach allen Seiten in 1000 Dinge verstrickt sein, oberflächlich gesehen immer dasselbe tun, doch mit großer Freiheit im Reich der Worte und im konkreten Daily Life.

So richtig bekümert bin ich von all dem nicht. Es wird sich etwas ergeben, wie immer.

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