Derzeit überkommt mich oft das Verlangen, einfach abzuschalten, den Kopf in irgend einen Sand oder unter die Decke zu stecken. Dabei droht ja nichts, definitiv steht keine erkennbare Gefahr vor mir, jedenfalls nichts, was über das Übliche hinausginge. Was aber ist „das Übliche“?
Es fällt mir schwer, das einzukreisen, weil es eben so normal ist. DA IST EIGENTLICH NICHTS, nur in bestimmten Stimmungen kommt es mir so vor, als gäbe es Grund zum Weglaufen – und dann geht wieder die Sonne auf, die Laune bessert sich, ich fühle mich stark und initiativ und ein Blick auf „die Lage“ ergibt: alles im grünen Bereich! Die Chancen stehen sogar super, ich brauche bloss loszulegen…
Luxusprobleme
Während ich das so hinschreibe, fällt mir eine weitere Spaltung auf, die das sporadische Fluchtverlangen noch verstärkt: Immer, wenn meine Welt mir problematisch erscheint, muss ich mich entscheiden, ob ich etwas an ihr zu verändern suche, oder ob ich mich besser selbst verändere. Ersteres könnte z.B. bedeuten, eine Liste zu machen und anstehende Arbeiten abzuhaken, letzteres kann heissen, in die Sauna gehen, eine Stunde Yoga oder einen Spaziergang machen – oder auch Diary schreiben, um klarer zu werden. Immer wieder erwische ich Momente des Zweifels, ob nun das eine oder das andere angesagt ist – kurzum: ich habe Luxusprobleme!
Bevor ich mich diesen zuwende, nochmal ein Blick auf das, was gelegentlich nervt:
- Vielfalt,
- Komplexität,
- Unsicherheit,
- schnelle Veränderungen.
Manchmal habe ich Angst, dass mir alles entgleiten könnte, wenn es auf einmal nicht mehr gelingen sollte, auch nur sporadisch den Überblick über alles zu gewinnen, was „im Auge behalten“ werden will oder muß. Dann fürchte ich, einfach zu ertrinken in den unüberschaubar vielen Themen und Ebenen, mit denen ich täglich in Kontakt komme, schlicht zu versacken in der Beschäftigung mit Randproblemen oder unwichtigem, aber Zeit fressenenden technischem Kleckerkram. Und dass mich das alles so frustriert, dass ich völlig die Lust verliere und einfach keine Energie mehr aufbringe, überhaupt noch einen Mausklick zu tun.
Meine vorindustriellen Arbeitsmethoden sind nicht das Problem, aber auch nicht sehr hilfreich, wenn es darum geht, sich mittels formaler Ordnung zu beruhigen: Rational strukturierte und konsequent geführte Notizbücher, Adresskarteien, Terminkalender, Themen-Ordner und dergleichen waren nie mein Ding. Ausschließlich gestützt vom jederzeit befragbaren Internet und den unzähligen Daten in zigtausenden Mails in den Ordnern meines Mailprogramms lebe ich (fast) im papierlosen Büro. Alle Versuche, ein ordentliches papiergestütztes „Selbstmanagement“ einzuführen, liegen lange hinter mir. Ich habe es aufgegeben, anders sein zu wollen als ich nun mal bin: Was ich nicht im Kopf habe, fällt aus meiner Welt heraus. Früher hab‘ ich das allein als Defizit und Unfähigkeit gesehen, doch während eines sehr komplexen Projektleiterjobs, in dem ich ständig Fragen beantworten, Besprechungen abhalten, Konzepte verfassen, Behörden kontaktieren und Leute motivieren mußte, sagte mal eine Kollegin zu mir: „Ich fasse es einfach nicht, wie du das alles schaffst. Auf deinem Schreibtisch herrscht der totale Verhau, aber in deinem Geist ist Klarheit und Ordnung.“
Ich bin ihr heute noch dankbar für diese freundliche Bemerkung, denn für mich war das die Wende: Das Defizit wurde in meiner Selbsteinschätzung zum Plus, zum Pfund, mit dem ich künftig wuchern konnte (frei nach dem Motto: Das Brett vor’m Kopf zur Kasse machen :-).
Allerdings: Seither hat sich die Komplexität der Arbeits- und Aktionsfelder vervielfacht, die Kapazitäten in meinem Hirn und Gemüt aber nicht. Immer wieder besteht die Arbeit darin, Vielfalt zu reduzieren, Nutzloses zu streichen, sogar Nützliches und Vielversprechendes loszulassen, weil es ZU VIEL ist. (Auch dieses Diary ist aus einem „zu viel“ entstanden, nämlich aus zu vielen interessanten Privatmails, deren Ansprüche ich irgendwann nicht mehr erfüllen konnte: Mehr als ein paar wenige intensive Gespräche kann ich nicht führen, ob nun von Angesicht zu Angesicht oder per E-Mail, ist ziemlich egal. Also spreche ich SO mit Euch…)
Selbständiges (und zunehmend auch unselbständiges) Arbeiten bedeutet heute kundiges Jonglieren mit Optionen, ständiges Abgleichen von Möglichkeiten und dauerndes Neu-Profilieren und Umkonfigurieren der „Marke“, zu der man als Dienstleisterin werden muß, um erfolgreich zu sein, bzw. um in der Menge überhaupt wahrgenommen zu werden. Die positive Möglichkeit liegt darin, das ganze als ein Spielfeld zu sehen, auf dem es durch ständigen Wandel und immer neue Versuche, Projekte, Experimente und Herangehensweisen gelingen kann, zu dem zu werden, was man immer schon ist, aber eben nicht „immer schon“ sehen, geschweige denn leben konnte. Der heilige Gral der Arbeit heisst: Für DAS nachgefragt und bezahlt werden, was ich „von selber“ bin, nicht für das, was ich angestrengt vorspiele, weil es nun mal verlangt wird.
Viele Menschen haben gar nicht die Hoffnung, letzteres sei möglich, und konzentrieren sich nur darauf, „irgendwas“ anzubieten, was der Markt verlangt. Es war nicht meine Wahl oder gar Leistung, dass ich nie so werden konnte. Ich MUSSTE in allem, was ich tue, nach dem suchen, was mich innerlich befriedigt und glücklich macht, und weitestgehend alles verweigern, was dem entgegen steht. Mich aufzuteilen zwischen dem Reich der Notwendigkeit und dem Reich der Freiheit ist mir nie gelungen, ja, ich glaube nicht mehr an die Wahrheit dieser Unterteilung. Ohne Druck von außen bricht man nicht auf zu neuen Ufern, unternimmt keine Anstrengungen, das herauszufinden, zu perfektionieren und zu nützlichen Dienstleistungen auszuarbeiten, was einem persönlich liegt und entspricht. Kurz gesagt: Stoffwechsel muß sein.
Mal sehen, wie ich heute die Kurve nehme.
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