Mit Büchern hat es eine eigene Bewandnis, so als wären sie ein bißchen weniger „Ding“ als andere Gegenstände. Man kann sie zum Beispiel nicht einfach so wegwerfen, bei mir zumindest taucht schon beim Gedanken daran ein Schuldgefühl auf: Das kannst du doch nicht machen! Das könnte ja noch jemand anders lesen… Bücher sind sorgsam zu behandeln und mit Respekt ordentlich in Regale zu stellen. Ihre „Aura“ macht ein Zimmer gemütlich, auch wenn man schon Jahre nicht mehr ‚reingesehen hat. Und: Wer seine Zimmer mit Bücherwänden füllt, ist vermutlich kein Neonazi, oder?
Ganz allgemein scheint „das Gute“ zumindest in den virtuellen Welten der Bücher seinen Ort zu haben, denn die höchsten Strebungen der Menschen lassen sich immerhin in Texte fassen, wenn schon nicht in der Welt verwirklichen. Solche Bücher loswerden zu wollen, kommt fast einer Distanzierung von den Inhalten gleich, zumindest solange man den seltsamen Gefühlen nicht genauer nachspürt, die ein „Hau weg den Scheiß“ als große Sünde wider den Geist erscheinen lassen.
Schon vor ein paar Tagen hatte ich beschlossen, die schweren Billy-Regale nicht wieder mit nach Berlin zu nehmen. Schon jetzt enthalten die nicht mehr nur Bücher, sondern allerlei IT-Magazine in Schubern, diverse Aktenordner aus den Behördenwelten und Schachteln mit technischem Abfall (Kabel, PC-Teile, nie benutzte Kleingeräte etc.). Die Magazine kommen endlich weg, keine Frage. Jahr um Jahr hatte ich zumindest den jeweils letzten Jahrgang der Internet-World behalten – und dann doch nie zum zweiten Mal in ein gelesenes Heft geschaut. Es reicht. Komisch genug, dass ich solange dachte, die „sicherheitshalber“ nicht wegwerfen zu können. Dabei hole ich Antworten auf technische Fragen ja doch immer aktuell aus dem Netz.
Dann aber die Bücher. Jedes Einzelne nehme ich in die Hand und frage mich: Werde ich da nochmal reinsehen? Bei den Unterhaltungsromanen, die sich in den letzten zwei Jahren aus schierer Langeweile hier angehäuft haben, gibt es kein Problem, die kommen alle weg: Thriller, Krimis, die Bestseller-Listen rauf und runter, ob anspruchsvoll oder platt, Gefühle spielen keine Rolle, allenfalls ist der Geldwert zu beachten. Irgendwie müßte ich die alle zusammen verkaufen. Gleich mit aussortiert wird die neue Literatur, die paar Bücher, die ich mir aufgrund des „öffentlichen Gesprächs“ interessehalber zulegte und dann doch nur mit Mühe zu Ende lesen konnte, wenn überhaupt. Die hätte ich zum Beispiel früher nicht abgeschafft. Wenn sie mich schon nicht ergreifen, so machen sie doch was her! Aber auch wenn mich ein Buch „ergreift“: Warum es behalten? Das Erlebnis läßt sich nicht wiederholen, was bleibt, ist das Status-Symbol: Wow, Claudia liest zeitgenössische Literatur, könnte ja ein Besucher denken…
Also weg, schließlich liegt die Teeny-Zeit lange hinter mir, wo ich noch Freuds „Unbehagen in der Kultur“ und Suzukis Zen-Buch „vor Besuch“ unübersehbar aufs Tischchen drapierte (immerhin hatte ich die gelesen). Jetzt erinnere ich mich auch an eine alte Freundin, die ganz besonders hohe Regale hatte und ihre Bücher an der Decke entlang aufstellte, damit niemand aus ihrem Lesestoff Rückschlüsse ziehen kann. Auch darüber bin ich seit Jahren weg, sonst hätte ich mich nie getraut, die Frauenmörder-Krimis in Augenhöhe aufzustellen.
Houellebecq ist geblieben, was aktuelle Literatur angeht. Und von den Thrillern die drei Bände von Samuel Shem (House of God, Mount Misery, Dr.Fine). Irgendwann wird mir ein Medizinstudent oder künftiger Psychiater begegnen, dem ich sie schenken kann. Zu passenden Gelegenheiten verschenken würde sich natürlich für die meisten Bücher anbieten, doch dann müßte ich sie erstmal alle weiterschleppen, bewahre! Außerdem halte ich „Belehrungsgeschenke“ mittlerweile für nutzlos und anmaßend, es sei denn, das Buch ist wirklich in einer bestimmten Frage ganz besonders herausragend und dazu noch mitreissend, wie eben „House of God“ bezüglich des Arztberufs, oder Dr.Fine für Psychoanalytiker.
Im Allerheiligsten wildern
Jetzt geht’s dann aber ans „Eingemachte“: Philosophische und spirituelle Schriften, geistreiche Essays – will ich die wirklich loswerden? Hier spüre ich am stärksten, das Bücher mit Identität, der Vorstellung vom eigenen Ich zu tun haben. Fast spüre ich die Trennung körperlich und doch ist es auch ein Gefühl der Befreiung. Schließlich gewinnt man zu gewissen Themen im Lauf des Lebens eine eigene Haltung, eine Praxis oder auch begründete Ignoranz, die keine Text-Inputs mehr braucht.
Und so verschwinden die meisten Bücher über Meditation, die Reste magischen Denkens, die letzten New-Age-Apologeten und Lebenskunst-Berater (geblieben: Ken Wilber, Harry Palmer, vorerst) und alles über paranormale Zustände. Tschüss auch für Baghwan (behalten: Das Herz-Sutra), Alan Watts, Ram Dass, Reshad Feild, Rudolph Steiner sowieso. Die „zynische Vernunft“ von Sloterdijk verabschiede ich locker, auch die „Große Mutter“ von Neumann, das letzte Werk zur Geschlechterfrage, das hier – weil ungelesen – noch überlebt hatte. Erhalten bleiben auch Villém Flusser und ein paar kleine Bändchen diverser Franzosen (Baudrillard u.a.). Hier merke ich, dass das Gewicht eines Werkes große Bedeutung hat: Wären das schwere Wälzer, kämen sie ganz klar weg. Vielleicht ein Hinweis für Verlage, bevorzugt kleine schlanke und leichte Bücher herauszugeben, die haben bessere Chancen, bei Umzügen mitzukommen.
Was noch? Ein paar Yoga-Bücher, ZEN-Schriften, Sögial Rinpoche und Chögyam Trungpa, ein bißchen Nietzsche und Heidegger, (eh nicht mehr in verkaufsfähigem Zustand), Safranskis Werke über diesselben und Gurdjeffs „Kampf gegen den Schlaf“. Letzteres ist ein gutes Beispiel für dieses absurde „Behalten“: vor dreißig Jahren verschlungen, vor zwanzig dann nochmal, vermutlich werde ich es nie wieder öffnen – und doch gebe ich es nicht weg. Vielleicht aus dem Gefühl, dass zumindest das Thema für mich nicht abgehakt ist, wenn mir auch heute Gurdjeffs Worte nicht mehr weiter helfen, allenfalls das Leben selbst.
Zuletzt die Sachbücher. Einfach zu entsorgen ist „Geld verdienen am neuen Markt“ – bin ich froh, es letztlich doch nicht gewagt zu haben! Auch andere Bücher über Geld verschwinden, dazu der ganze Cyber und Net-Hype, schließlich die nur einmal kurz durchblätterten Bildbände (Landschaften, Design, Anatomie…). Die allein ersparen dem Umzug gleich mehrere Kilos. Auch über den „Weg des Schreibens“ muß ich nicht mehr nachlesen. Aber „Suspense“ von Patricia Highsmith bleibt, vielleicht schreib ich ja doch nochmal einen Thriller, ihre Tips sind das Beste auf dem Gebiet! Werke über Graupapageien, Hühner und Pilze verabschiede ich, dafür bleiben ein paar Kochbücher (italienisch, schwäbisch, asiatisch), Kühnels Javascript-Workshop, Gephard-Seeles „So bekommen Sie Aufträge“ (auch ein Scientologe kann offensichtlich gute Sachen schreiben) und Shepard Nulands „Wie wir sterben“, das Gegengift zu Kübler Ross, die schon den vorletzten Umzug nicht überlebt hatte.
Ich zähle. Ungefähr 80 Bücher sind übrig, zweieinhalb Regalbretter. Wenn ich die so ansehe, weiß ich, dass bei tieferem „In-mich-gehen“ noch einige verschwinden würden – muß aber nicht sein, ich gehe sanft mit mir um, dulde verschiedene Macken und zerreisse keine Bindungen, wenn es weh tun würde. Vielleicht beim nächsten Umzug.
Wow, das ist ein langer Eintrag geworden, Bücher sind halt was Besonderes, am liebsten würde ich für jedes einen eigenen Nachruf schreiben! Welche Bücher werden wohl noch übrig sein, wenn ich sterbe? Ganz kurz reizt mich der Gedanke an diese ganz persönliche „Besten-Liste“ – dann denke ich an das Gefühl der Befreiung, wenn wieder so ein „wichtiges“ Buch verschwindet: weil ich ich über sein Thema nicht mehr lese, sondern es lebe. Von daher gedacht, wäre es optimal, ganz ohne Buch zu sterben. Und umgekehrt wüßte ich, dass der Zeitpunkt gekommen ist, sobald ich das letzte Buch ohne Gefühlswallung weggebe.
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