Im Rückblick erfindet ein jeder die eigene Vergangenheit täglich neu – ich weiß nicht mehr, wer das gesagt hat, doch zweifellos hat er recht. Jede Veränderung im Jetzt zeigt die Vergangenheit in anderem Licht, man merkt es allerdings nur anhand großer Brüche, nach Krisen, bei kleinen und großen Katastrophen. Jetzt zum Beispiel kann ich langsam erkennen, wie meine innere und äußere Stagnation des letzten halben Jahres zustande kam, ja, ich nenne das erst jetzt „Stagnation“ oder auch Krise, denn es verabschiedet sich gerade in Lichtgeschwindigkeit und gerät so überhaupt erst in den Blick.
Davon will ich heut‘ aber nicht schreiben. Denn der Frühling hält mich umarmt, das Fieber hat mich verlassen, seit dem letzten Berlinbesuch verschwinden sogar die überzähligen Kilos. Ich weiß auf einmal, was ich konkret in nächster Zeit tun will, freue mich drauf und fühle: Da ist noch viel viel mehr!
Mehr? Meine kritisch-gelassenen Texte über das „Streben nach mehr“ würden alleine schon ein mitteldickes Buch ergeben. Mit ihrer Hilfe konnte ich mich einspinnen in einen Kokon vermeintlicher Wunschlosigkeit: Alles schon gehabt, was ich je wirklich haben wollte, sämtliche Vorder- und Rückseiten gängiger Medaillen erlebt und überwunden, den ZEN-Satz „Vorteil ist Nachteil“ am eigenen Leib und Leben durchbuchstabiert und dabei weise geworden. So dachte ich von mir, allen Ernstes!
Die Energie des Frühlings läßt den Kokon aufbrechen, auf einmal spüre ich wieder die Abenteuerlichkeit des Lebens, das Unbekannte, das Verlockende – ohne deshalb an einem neuen Wunsch festzukleben, sondern noch ganz unkonkret, als Versprechen: WENN du deine Schubladen im Kopf auf den Müllhaufen der Geschichte entsorgst, ist die Welt wieder weit, die Horizonte liegen offen, auch und gerade in der Stadt.
Was für Schubladen im Kopf? Einge ganze Menge, wie ich jetzt erkenne. Mein stabiles Selbstbewußtsein (Mitte 40 hat man sowas, wenn es gut gelaufen ist) und diese jederzeit aktivierbare Gelassenheit gegenüber allem Streben, allen Wünschen und Zielen, bedeuten noch lange keine Freiheit. Sondern nur eine Umgangsweise mit der Welt und dem Leben, bei der man nicht mehr ständig unterzugehen droht und sich sogar halbwegs wohl fühlen kann. In diesem Sinne erfolgreich, aber doch nichts als eine Verteidigungshaltung und als solche beschränkt. Schließlich lebe ich nicht, um selbstbewußt zu sein, sondern um zu SEIN. Bin nicht da, um nicht unterzugehen, sondern um vor dem sicheren Untergang zu LEBEN.
Was für ein Sein? Na, da sein und ich selbst sein. Und das wird kaum statt finden, wenn ich jeden Tag im großen und ganzen verbringe wie den vorherigen, wenn ich nur irgendwo hingehe, wenn ich weiß, was mich dort erwartet und immer nur das tue, was ich schon gut kann (anstatt z.B. Dinge zu versuchen, vor denen ich mich immer noch fürchte).
Was bindet mich denn – außer dieser selbst-eingenommenen Pose der Abgeklärtheit? Zwei Dinge, zwei beeindruckend dominante Gedankengestelle: Einerseits dieses anscheinend unausrottbare ausgerichtet- und verpflichtet sein auf Andere: das „man“, die Gesellschaft, allerlei Gruppierungen, Szenen und Interessen, politische Haltungen und spirituelle Werte – im Grunde laufe ich noch immer als Funktionärin herum, wenn auch nicht mehr im Äußeren, so doch von innen.
Mal ein Beispiel, das vermutlich viele kennen: Ein durchschnittliches deutsches Mittagsmahl, mir unverhofft serviert, stößt unzählige Gedanken über die einzelnen Bestandteile an, die im Kopf ein wirkungsmächtiges Eigenleben führen (z.B. Schweinefleisch/igitt, Eier/arme Käfighühner, gebratener Schinken/Nitrosamine, Weißmehlbrötchen/inhaltsleerer Schrott…). Als Folge ist dann jeder Bissen eine politische Grundsatzendscheidung, ein Erfolg oder Versagen angesichts selbst vertretener Werte. Ich kann von Glück sagen, dadurch nicht wirklich dick geworden zu sein, denn auf der Suche nach dem so eher ausbleibendem Genuß (wer denkt, genießt nicht), esse ich dann gern mehr, länger und öfter.
Der springende Punkt dabei ist, dass all diese Gedanken und das Einnehmen einer Haltung ihnen gegenüber es völlig verhindern, mal darauf zu achten, was wirklich schmeckt. Dazu kommt man gar nicht, kommt nicht mal auf die Idee, sich das zu fragen. Zum einen wegen der Gedankenverstrickung selbst, die das Bewußtsein abfüllt und keinen Platz für den sinnlichen Genuß läßt, zum andern weil dort, wo Ge- und Verbote regieren, die Gier sich unterschiedslos auf alles richtet, was auch nur den Hauch des „darauf solltest du verzichten!“ trägt.
Nun wäre es falsch, anzunehmen, die angesprochenen Haltungen und Werte seien nicht die meinen, sondern von Anderen übergestülpt, denen ich – um besser anerkannt zu werden – kein einschlägig sündhaftes Leben vorführen will. Nein, ich spalte mich innerlich auf in die überzeugte Vertreterin allgemeiner Werte, die ich zu allererst im eigenen Handeln verwirklicht sehen will (nicht nur beredet und beschrieben) und in die Genießerin, der das alles egal ist, die aber nicht zum Zuge kommt (wollte erst schreiben „zu Wort“, aber das ist es ja gerade nicht).
Ich merke jetzt, es sind gar keine ZWEI Gedankengestelle, sondern es ist nur eines. Wenn ich nämlich mal von dieser ständigen gedanklichen Teilhabe an projizierten Allgemeinheiten absehe, stoße ich nicht auf das zweite Gestell, sondern auf etwas, das Folge und Ursache gleichzeitig ist: Ich bin es mir nicht wert, bzw. ich wage es nicht, mal nur „für mich“ zu sein. Das wäre es nämlich, wenn ich meine Aufmerksamkeit darauf richten würde, was MIR gefällt, was ich mir allein wünsche. Wie aber soll ich je die Frage „Wer bin ich?“ beantworten, wenn ich nicht erforsche, was da ist oder sein will, jenseits der Anderen, jenseits aller „Probleme“?
Schon das Musik hören ist mir seit über einem Jahrzehnt verschlossen – und darauf war ich sogar noch gelegentlich stolz, stolz auf diese „Stille“, weil sie sich immerhin vom allgegenwärtigen Lärm und Berieselt-werden mit Fun- oder Trance-Musik abhebt. Dabei kann ich nur nicht auf Musik abfahren, weil sie voraussetzt, dass man mit-sich-alleine genießen, spüren, zuhören, sich den Eindrücken hingeben kann; ohne denken, ohne werten, ohne Pflichtgefühl und Sendungsbewußtsein und auch ohne Entschuldigungen zu suchen, dass man es doch tut. Dass man mal NICHTS tut…
Ganz schön auf Leistung getrimmt, dieses seltsame Wesen, das ich hier wie von außen betrachte!
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