Unter dem Titel „Verwahrlost und verendet“ beschreibt Michael de Ridder im aktuellen SPIEGEL (S.208), wie heutzutage alte hilflose Menschen in Pflegeheimen oder zuhause dahinvegetieren und elend sterben, wie sie manchmal bei lebendigem Leib regelrecht verfaulen. Wie sich „Armut, Isolation, Partnerverlust, Depressionen, Mangelernährung, Kräfteverfall und nachlassende Hygiene mit physischen Leiden verschränken – zu stummer, nicht mehr erreichbarer Verzweiflung, die irgendwann nur noch erschöpft danach verlangt, ein Ende zu finden“.
De Ridder ist leitender Oberarzt der Rettungsstelle und Aufnahmestation des Berliner Urban-Krankenhauses, wie ich in einer schnellen Google-Recherche herausfand. Also ein Mensch aus meiner alten Kreuzberger Heimat, der seine „Daten“ auch von dort schöpft. Er erzählt von verelendeten Alten aus Kreuzberg und Neukölln, aber auch von den 26.000 Menschen, die in den 336 Berliner Pflegeeinrichtungen leben. Deren Überprüfung hat laut De Ridder ergeben, dass
75% der Bewohner keinerlei Ansprache hatten,
bei 40 Prozent die Trinkmengen nicht ausreichten
Brei auch dann auf dem Speiseplan stand, wenn festes Essen noch möglich wäre.
Zunehmend legt man sowieso Magensonden, dann ist die Ernährung mittels Einspritzung nur noch eine Sache von 30 Sekunden – so ähnlich wie beim Stopfen von Gänsen, eine Praxis, die immerhin so viele Tierschützer auf die Palme getrieben hat, daß sie bei uns verboten ist.
Genug, ich hör‘ ja schon auf, bevor hier auch der letzte Stammleser entnervt wegklickt. Dieses Diary wird nicht gelesen, um Einzelheiten vom Elend der Welt zu erfahren, ich weiß, ich weiß! Und schließlich ist es nicht der erste Bericht dieser Art, der durch die Presse geht, wir wissen alle von diesen Zuständen, gruseln uns gelegentlich angesichts einer drastischen Beschreibung, denken mit Sorge an „das Problem Altersversorgung“ und wenden uns schnell wieder Erfreulicherem zu. Wenigstens ich mache das meistens so. Meistens? Immer.
Zwischendurch mal in die Mailbox geguckt: gerade jetzt schreibt mir eine Leserin, mein Diary wirke „seelentröstend“. Solche Mitteilungen bekomm‘ ich nicht jeden Tag, wie die jeweiligen Sender/innen immer meinen, aber gelegentlich. Und ich freue mich über jede einzelne, denk‘ mir dabei: „Na, immerhin nützt es jemandem, welch unverdientes Glück! Dann ist es also nicht nur reine Selbstbespiegelung“, – etwas, wobei ich ein schlechtes Gewissen hätte, wenn ich darüber nachdächte. Doch tu‘ ich schreibend ja nichts anderes, als meine Selbst- und Weltbetrachtung ausbreiten, Gedanken nachgehend, die mich – allein mit mir im Kopf – nicht lange genug fesseln würden, um sie überhaupt Gestalt werden zu lassen. Eine gänzlich egoistische Sache also, weil zum eigenen Nutzen.
Ist das nicht ein Hinweis, wie „helfen“ funktionieren könnte? Schon das Wort ist ja heute bei den gebildeteren Ständen nicht gerade hip. Redet man vom Helfen, wird man mit psychologisierendem Blick scharf angesehen: Helfersyndrom? Größenwahn? Was will sie denn kompensieren?
In meinen politisch und sozial aktiven Zeiten hab‘ ich auch durchaus erlebt, wohin mich die Idee, anderen helfen zu können, bringen kann, nämlich in mehrere verschiedene Höllen auf einmal. Dabei stand am Beginn dieser Aktivitäten nicht der geringste Helferimpuls, sondern der Spaß am Abenteuer und ein ganz konkreter eigener Ärger über die Wohnsituation im Berlin der 80ger-Jahre (man mußte damals 10 bis 20 TDM Abstand zahlen für eine erträgliche Bleibe!). Dass ich dann von der „Betroffenen“, die an Hausbesetzungen teilnimmt, zur „Betroffenen-Vertreterin“ im Mieterladen, dort zur „Mieterberaterin“ und schließlich zur „Einzelfallbetreuerin“ im Büro für Sozialplanung und angewandte Stadtforschung (abgekürzt SPAS, welch‘ ein Hohn!) wurde, bezeichnet auch die Stadien eines Niedergangs. Es machte mich wirklich fertig, einschließlich psychischer Deformationen wie ständig unterdrückte Wut, Größenwahn, Ohnmachtsgefühle, Selbsthaß, Verzweiflung – dabei ging es nur ums Wohnen! Als Irrweg erwies sich auch mein Versuch, in der Politik etwas zu verändern, davon fang‘ ich jetzt lieber gar nicht erst zu erzählen an.
Und trotzdem. Wenn ich an diese Alten in ihrer hilflosen Situation denke, kann ich es nicht mehr einfach abhaken und mir sagen: Das ist halt so, da kann man nichts machen, ein Einzelner schon gar nicht. Denn jenseits dieses Anflugs von Mitgefühl, der zum Beispiel auftaucht, wenn man ein schlimmes Foto sieht, wird mir immer deutlicher, daß ich selber alt werde, selber keine „ordentliche“ Altersversorgung habe – und selbst die mit den „ordentlichen“ Versorgungen landen ja offensichtlich in diesem Elend!
Natürlich tröste ich mich üblicherweise über diese Gedanken weg, schwöre mir zum Beispiel, lebenslänglich mit den Yoga-Übungen fortzufahren, damit ich meine Beweglichkeit nicht verliere und anderen niemals hilflos ausgeliefert bin. In der Realität setze ich aber meist schon damit aus, wenn ich mich auch nur schlaff fühle oder sonstwie unlustig bin! Und wie schnell saugt eine Krankheit mal eben alle Lebenskraft auf, wie plötzlich schwindet die Mobilität bei einem Unfall? Mehr noch: Ich kann gut vorausspüren, dass es ein natürlicher Prozess im Altern ist, sich immer weniger militant um sich selber kümmern zu wollen. Die letzte Phase wäre natürlicherweise die spirituellste: das hypertrophierte Ego kann endlich verschwinden, man stellt sich den „letzten Dingen“, man möchte (wenn nicht schon vorher erreicht) seinen Frieden machen – mit der Existenz, mit dem Sein, mit den Anderen, mit Leben und Tod, manche auch mit Gott.
Und ausgerechnet dann wird man Opfer! Muß in der finalen Schwäche ums nackte Überleben kämpfen (FALLS man noch kann..), wird nicht richtig gewaschen und nur flüchtig ernährt, man liegt sich wund und sogar das Trinkwasser enthalten sie einem vor. Geschweige denn, dass man „eine Ansprache hat“.
Wollen wir das wirklich so lassen?
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