Tag 4 in Friedrichshain, endlich steht der Computer und alles, was dazugehört fertig verkabelt auf (bzw. unter) dem funkelnagelneuen Schreibtisch. Was für ein Luxus! Soviel Platz hatte ich noch nie. Neben dem festgenagelten Dasein – Hände auf der Tastatur, Augen Richtung Monitor – ist es jetzt möglich, mich leicht nach links zu drehen und auf einer freien Fläche „händisch“ zu schreiben, zu zeichnen, oder mich einfach an der Leere zu freuen. Angesichts der vielen Jahre, die ich schon vor Schreibtischen zubringe, ist es schon erstaunlich, wie lange es gedauert hat bis zu dieser optimierten Lösung!
Meine Hochachtung vor den sogenannten kleinen Dingen steigt, je älter ich werde. Möbel finden, mit denen man sich wirklich wohl fühlt; Klamotten kaufen, die bequem sind, sich auf der Haut angenehm anfühlen und noch dazu gut aussehen; mit Genuß essen, ohne dick zu werden oder an Vitaminmangel zu kranken – mir scheint, das sind die wahren Lebensaufgaben, nicht etwa Diplome, berufliche Erfolge oder leicht lernbares intellektuelles Wissen über dies & das. Lothar Reschke hat vor einigen Jahren mal ausführlich über das Schuhe-putzen geschrieben. Du lieber Himmel, das fand ich nun wirklich übertrieben, schon fast ordnungsfanatisch. Heute weiß ich: Ja, an solchen Dingen hängt konkrete Lebensqualität – nur bezüglich der Schuhe bin ich leider auch jetzt noch nicht so weit ;-)
Wenn ich mich mal in einen Kleiderladen verlaufe, dessen Zielgruppe so um die 20 oder jünger ist, finde ich die Sachen gelegentlich optisch ganz schick – aber einmal anfassen reicht, um zu spüren: Nach 20 Minuten würde ich unangenehm schwitzen in all dem Plastik und Kunststoff-Mischfaser-Zeug! Und ich erinnere mich: Hab ich denn als Teeny nicht unter diesen kratzenden oder schweißtreibenden Stoffen gelitten? Doch, schon, aber es war mir egal, es blieb unterhalb der Schwelle bewußten Wahrnehmens, denn andere Dinge waren unendlich viel wichtiger. Ob ich auch gut und vor allem „angesagt“ aussehe, was die anderen von mir halten und ob mich dieser oder jener begehrenswert findet, solche Gedanken beherrschten mich, wenn ich mit meinen Peer Groups unterwegs war. Die unangenehmen Empfindungen durch die Klamotten verschwanden vollständig hinter der viel größeren Angst, nicht anzukommen, vor allem beim anderen Geschlecht.
Später dann, bei mir so ab 25, verschiebt sich der Fokus des Bewußtseins auf Ehrgeiz und Karriere. Ob man sich bestmöglich anpasst oder in Ablehnung bestehender gesellschaftlicher Werte seinen Weg geht, ist eigentlich egal. Man möchte JEMAND sein, Plattformen besetzen und Standpunkte vertreten, Macht gewinnen oder mit Erkenntnis glänzen, vielleicht auch „die Welt retten“ und anderen Menschen helfen – und noch immer hat das konkret Gegenständliche keine Chance, bemerkt zu werden. Jahrelang lebte ich z.B. von Currywurst, Pizza, Kneipensnacks und Bier, meine Wohnung war ein Chaos und es ist durchaus vorgekommen, daß ich mein Sweat-Shirt verkehrt herum anhatte. Schließlich gab es Wichtigeres zu tun, weltbewegende Fragen – Politik, Kunst, Philosophie! – kreisten in meinem Kopf, für den alltäglichen Kleinkram war da nun wirklich kein Platz.
Das ist nun auch schon wieder fünfzehn Jahre her. Heute sitze ich in meinem übersichtlichen neuen Zimmer, genieße den Platz am vergrößerten Schreibtisch, freu‘ mich an den Blumen, die mir ein lieber Freund zum Einzug schickte, und wiege sage und schreibe zwölf Kilo weniger als noch vor zwei Jahren, als ich aus Berlin Richtung Mecklenburg aufbrach. Ich bin nicht mehr wichtig, welch ein Glück, und auch nicht mehr „gewichtig“. Es fühlt sich wunderbar an, fast wie fliegen. Wenn ich mir die verlorenen Kilos als gut eineinhalb Tüten Briketts vorstelle, dann weiß ich genau, was ich jetzt nicht mehr durch die Tage schleppen und der Schwerkraft mühsam entgegen stemmen muß. (Wer mal einen Kohleofen hatte, weiß, was ich meine).
Fehlt nur noch der Netzanschluß, noch immer hab‘ ich keine Nachricht von der Telekom. Mittlerweile kenn‘ ich in fußläufiger Entfernung immerhin schon vier Internet-Cafés, ganz nette Gelegenheiten, um ein bißchen vom Kiezleben mitzubekommen.
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