Was sind schon verlorene Papiere? Die Bullin in der Friesenwache versichert mir freundlich, dass ich doch in Deutschland gar keinen Ausweis mit mir führen muß. Und auf dem zentralen Fundbüro wird mir geraten, einfach noch zwei Wochen zu warten, meistens fänden sich verlorene Ausweise wieder ein. Wenn nicht, einfach neu beantragen! Warum also hab‘ ich mich über den verschwundenen Geldbeutel nur so aufgeregt?
Kontrollverlust macht Angst, das ist mir lange klar. Doch Kontrolle ist nur eine Illusion, je mehr ich ihr verfalle, desto stärker irritiert es mich, wenn mal was daneben geht und nicht so läuft, wie ich mir das vorstelle. Jetzt ist der Anfall wieder vorbei. Ganz entspannt korrespondiere ich mit Ämtern und Behörden, bereit, alles zu tun, was sie mir raten. Für alles existiert ein Algorithmus, eine Folge von „Wenn-dann-Vorschriften“, und wenn sich alle friedlich daran halten, gibt es keine Probleme – das ist die Utopie der Stadt, der ganzen technischen Zivilisation.
Als wir eingezogen sind, hat das Umzugsunternehmen rechtzeitig Halteverbotsschilder platziert, damit der Laster dann auch Platz zum Ausladen findet. Natürlich hielten sich die Anwohner nicht daran (schließlich ist das hier ein sozialer Problembezirk), Auto reihte sich an Auto. Kein Problem, signalisierte der türkische Umzugsunternehmer, holte per Handy die Polizei, die ihrerseits ein paar Formulare prüfte und dann den Abschleppdienst verständigte. Das Ganze zog sich ein wenig hin, die Leute in der Straße wurden aufmerksam, Bauarbeiter stiegen von den Gerüsten, Kunden aus dem Getränkeladen gegenüber eilten herbei – und als das „Umsetzen“ begann, stand nur noch ein einziger Wagen im Weg, der dann mit großer technischer Eleganz ein paar Meter weiter abgesetzt wurde. Wow!
Jetzt geht die dritte Woche in Berlin zu Ende. Noch immer geht mir der Lärm nicht auf die Nerven. Daß auch mal nachts um eins der Techno aus der Nachbarwohnung schallt, trifft mich komischerweise nicht. Selbst die Feststellung, daß offensichtlich ein anderer Nachbar nachts seine Frau schlägt, geht mir lange nicht so nahe, wie das auf dem Land, in der Isolation mit wenigen, ganz konkret bekannten Menschen der Fall gewesen wäre. Untätig bleibe ich deshalb nicht, rufe die Frauenbeauftragte im Bezirksamt an und lasse mich beraten, was zu tun ist. Eine Plakataktion in ganz Berlin bewirbt derzeit eine einschlägige Telefonnummer – ich erzähl das nur, weil selbst die Wahrnehmung dieser bekannten sozialen Schrecklichkeiten mir auf einmal ganz anders vorkommt: Immerhin wird es wahrgenommen, immerhin kümmert man sich darum, es gibt Anlaufstellen und Hilfseinrichtungen, es wird darüber gesprochen. Jede „hilflose Person“ wird von der Straße geklaubt, wogegen in Kleinwelzin, draußen in der Mecklenburger Pampa, die Insassen eines Alten- und Pflegeheims gelegentlich halb angezogen bei eisiger Kälte ziemlich weit durch das Land marschieren können, bevor sich jemand findet, der den Flüchtling zurückbringt.
Ich fühle mich zuhause, wie ich mich lange nirgends mehr zuhause fühlte. Es ist sogar körperlich spürbar, denn seit die Stadt mich wieder umgibt, ist ein bestimmter Bereich in der Gegend des Solar Plexus wieder entspannt, dessen Verspannung ich „draußen“ schon gar nicht mehr bemerkt hatte. Das macht wohl die Geborgenheit des Ameisenhaufens, das heimelige Gefühl, in der Metropole für alles und jedes Problem, aber auch für alle Wünsche und Möglichkeiten mit Sicherheit andere Menschen finden zu können. Darunter viele mit „Breitbandbewußtsein“, Leute, die gewohnt sind, flexibel zu denken und zu reagieren und die nicht schon gleich komisch gucken, wenn man mal einen ungewöhnlichen Hut aufsetzt. Stadtluft macht frei, das stimmte schon im Mittelalter und gilt heute erst recht.
Große Städte, in denen es nicht mehr möglich ist, daß jeder jeden kennt, sind virtuelle Gemeinschaften, also Communities der Möglichkeiten: WENN dies oder jenes geschieht, WENN ich dies und das brauche, WENN es mich nach X oder Y verlangt, DANN kann ich es haben, DANN finde ich meine Gegenüber. Ansonsten aber, und das ist verdammt wichtig, werde ich in Ruhe gelassen, jeder läßt den anderen sein, im Guten wie im Schlechten. Man kann also auch ganz ungestört unglücklich, krank, verrückt oder einsam werden, solange man nicht auffällig wird, das Getriebe nicht stört oder sich hilfesuchend bei den „Zuständigen“ meldet, ficht das keinen an. Das ist der Januskopf der Freiheit, die eben ihren Preis hat.
Ein Freund hatte sich kurz vor meinem Gang aufs Land in der Nähe von Belzig in eine genossenschaftliche Siedlung eingekauft. Als wir neulich telefonierten und er von meinem Rückzug erfuhr, meinte er etwas wehmütig: „Tja, als Mieter kann man sich sowas erlauben!“ Es hatte ihn schon kurz nach seinem Einzug gestört, daß er die anderen Siedlungsbewohner dauernd grüßen muß, womöglich noch stehen bleiben und ein paar Worte plaudern, ohne ihnen doch wirklich etwas zu sagen zu haben. Ich weiß jetzt, daß genau das der Punkt ist, der die Stadt „wahrer“ erscheinen läßt: Man hat sich nichts zu sagen, tut es also auch nicht, es gibt keine derartigen Erwartungshaltungen, jedenfalls nicht im Raum physischer Nachbarschaft oder zufälliger körperlicher Nähe. Wogegen die Kultur des Landlebens noch immer von einer Gemeinschaft ausgeht, die lange schon nicht mehr existiert. Die Dörfer da draußen sind voller Rentner, dazu ein paar Pendler. Wo kein Tourismus ist, sagen sich Fuchs und Hase gute Nacht. Es gibt faktisch keine Gemeinsamkeiten, da die gemeinsame ARBEIT des Landes, die Landwirtschaft, durch technische Evolution gesellschaftlich bedeutungslos geworden ist. Die anonyme Stadt ist so gesehen überall, nur daß man ihre Vorteile auf dem Land kaum genießen kann.
„Häuser in Brandenburg sind billig zu haben, jetzt sogar renoviert“, erzählt mir Hans, der Mann, mit dem ich 1979 nach Berlin gezogen bin. Ich wundere mich, schließlich ist doch die Schnäppchenzeit der Nachwendejahre lange vorbei. „Nee“, meint er, „die kommen alle wieder zurück und verkaufen ihre restaurierten Buden. Da sinken halt die Preise.“ Aha! Wieder mal bin ich also mitten im Mainstream… :-)
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