Seit vorgestern bin ich heftig erkältet. Mitten in der größten Hitze ist das eine komische Sache, irgendwie unpassend. Heute fühle ich mich aber auf einmal wohl damit: diese fiebrige Schlaffheit ergibt eine physische Ruhe, die ich allein vom Fühlen und Denken her nur selten und bruchstückhaft zustande bringe, allenfalls mal nach intensivem Yoga oder einem langen Spaziergang.
Ruhe, Gelassenheit, Angstlosigkeit – abstrakte Begriffe für Zustände, die sowohl körperliche als auch psychisch-geistige Aspekte haben. Insofern kann man ihnen näher kommen, indem man beim Körper beginnt und Entspannungsübungen macht, oder aber man ändert etwas in der Psyche, im Denken und im daraus folgenden Verhalten gegenüber der Welt. Ich habe schon (wenige!) Menschen kennen gelernt, die körperlich völlig entspannt waren ohne jemals irgendwelche Übungen ausgeführt zu haben – einfach deshalb, weil sie ganz bei sich waren und keine Energie darauf verschwenden mußten, etwas zu scheinen, was sie nicht sind.
Insofern hat es mich entspannt und weiter gebracht, auch mal in der Web-Öffentlichkeit von mir als Alkoholikerin zu sprechen. Denn manchmal setzten mich Leser auf ein Podest, lobten per Privatmail ganz bestimmte Aspekte meiner Texte – und ich dachte mir: Wenn du wüßtest! Genau DAS ist nicht etwa angeboren oder angelesen, sondern ist Sprache gewordene Erfahrung, die aus Abgründen kommt, ganz bestimmt nichts, worauf man irgendwie stolz sein könnte…
Gleich in einem Aufwasch hab‘ ich meine derzeit wenig berauschende finanzielle Lage gegenüber dem Finanzamt geoutet, entgegen dem Rat meines Steuerberaters, der lieber selber über Ratenzahlung verhandelt hätte (kostet ja wieder!). Jetzt bin ich guter Dinge, egal, was sie antworten werden. Mehr als die Wahrheit kann ich nicht bieten – und zu dieser Wahrheit gehört nun mal, daß ich vermutlich noch zwei bis drei Monate brauche, bis ich guten Gewissens mit neuen Angeboten Aufträge akquirieren kann. Daran wird auch kein Finanzamt mit maximaler behördlicher Kampfkraft etwas ändern.
Besser als jeder Sieg ist es, gar nicht erst kämpfen zu müssen – je älter ich werde, desto mehr verstehe ich, wie das gemeint ist. Worum gehen denn die meisten Kämpfe? Meist darum, eine blendende Figur abzugeben, großartig zu wirken, sei es nun „schlank, schön, flexibel“ oder intelligent, gebildet, mächtig und „mit allen Wassern gewaschen“. Und warum diese Anstrengung? Weil man glaubt, damit etwas zu erreichen, sich zu verbessern und damit dem Glück näher zu kommen. Was aber ist das größte Glück?
Soweit ich das bisher sehen kann, ist auf dem Grund aller Bedürftigkeit und aller Wünsche die Sehnsucht, geliebt zu werden. Und zwar nicht mal in der Manier der romantischen Liebe, die von einem Partner alles Glück erwartet, sondern schlicht in Form von Aufmerksamkeit und Zuwendung – ohne Bewertung, ohne beurteilt und berechnet zu werden, ohne groß etwas leisten zu müssen. Dieser Wunsch ist natürlich eine Utopie, denn er wird nirgendwo im realen Leben dauerhaft durch Andere verwirklicht werden – allenfalls gibt es ein Gefühl der Nähe zu denjenigen Menschen, die das ebenfalls wissen und die deshalb ihre eigenen Ansprüche nicht mehr mit maximal möglicher Verbissenheit verfolgen müssen.
Hey, wo ist jetzt mein roter Faden hin? Ah ja, das war der Kampf, die Anstrengung, das Bemühen, besonders und ganz besonders toll zu sein oder zumindest zu scheinen: Wenn wir wirklich Leuten begegnen, die so sind, wie wir gerne sein wollen, solchen wunderbar geglückten Figuren, die ohne Makel und Macke selbstbewußt und glänzend alle anderen überragen – lieben wir sie denn? Bewunderung, ja, vielleicht auch Begehren – aber doch schnell übergehend in Neid, dazu Ungläubigkeit, man sucht automatisch nach dem blinden Fleck, der dunklen Stelle, die ja doch irgendwo sein muß…. aber keine Spur von Liebe.
Die Gruppen der Anonymen Alkoholiker sind deshalb so erfolgreich, weil sie alle Sucht und Suche an der Wurzel aushebeln – nicht etwa, weil da bessere oder weisere Menschen wären, sondern einfach durch eine intelligente Ritualisierung der Meetings: Jeder darf solange er mag von sich sprechen, also im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und Zuwendung der anderen stehen. Dann aber kommt der nächste dran, der wiederum nur VON SICH sprechen darf – keine Kommentare also, keine Ratschläge, kein Bewerten und Beurteilen. Allein das ergibt eine derart liebevolle Atmosphäre, eine Freundlichkeit und Zwanglosigkeit, die jedem nicht benebelten Menschen klar macht, wie idiotisch und in die Irre führend das tägliche Kämpfen letztlich ist – und wie EINFACH es ist, glücklich zu sein.
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