Wenn ich zwei Tage kein Diary schreibe, überkommt mich am dritten, spätestens am vierten Tag ein dringliches Bedürfnis, mich hinzusetzen, auf die „leere“ Datei zu starren und in mich hinein zu lauschen, was da jetzt wohl „zum Ausdruck“ drängt. Keinesfalls ist es ein Gefühl der Pflicht, eher eine Sehnsucht, in diesen stillen Raum der Selbstversenkung einzutreten, der sich mir schreibend so leicht eröffnet wie nirgends sonst. Kein Thema ist vorgegeben, keine Form von irgend jemandem verordnet, die Erwartungen der Leser sind so unterschiedlich wie diese selbst und also auch keine Leitlinie, die mich auf bestimmten Spuren halten würde. Volle Freiheit also, und was auf diese Weise entsteht, landet mit einem Mausklick in den unendlichen Weiten, hierjetzt und nicht erst nach Monaten oder halben Jahren wie im Reich gedruckter Worte.
Gelegentlich fordert mich jemand auf, doch aus dem Digital Diary ein Buch zu machen („Best of“… oder so). Mal davon abgesehen, dass das eine irre Arbeit mit wenig Aussicht auf Entlohnung bedeuten würde, zögere ich bis heute, das überhaupt ernsthaft in Erwägung zu ziehen. EIN BUCH ist doch etwas ganz anderes, mehr für die Ewigkeit geschrieben, nicht fürs Hierjetzt. Die Widersprüchlichkeit vieler Beiträge ist im Diary ganz richtig, weil ich mich hier nicht unter dem Anspruch bewege, rundum stimmig zu sagen, wo es lang geht oder andere „abgesicherte“ Botschaften abzusetzen. Es ist einfach nur Selbstausdruck – und ich bin nun mal nicht jeden Tag diesselbe. Hinzu kommt die schnelle Resonanz: Kommentare von Freunden, E-Mails von Fremden, gelegentliche Einträge ins Forum bewirken eine Rückkoppelung und beeinflussen (manchmal) die Folgebeiträge, genau wie aktuelle Weltereignisse oder persönliche Erlebnisse aus dem Alltag. Der virtuelle Raum, der durch ein solches Diary geschaffen wird, ist also fortschreitende Gegenwart, nicht mehr und nicht weniger, einzigartig, mit keinem anderen Medium SO zu verwirklichen.
Ein originäres „Netz-Format“ also, genau das, wonach die Verwerter des Internet so dringlich suchten, ohne zu bemerken, dass diese „Formate“ (welch häßliches Wort aus der TV-Welt!) längst existierten, nur dass sie sich – leider, leider – nicht wirklich zur Kommerzialisierung eignen. Private Homepages, Webforen, Umfragen, Awards, Gespräche und Interviews, sowie die unzähligen Mailinglisten sind weitere Formen, im Netz entstanden und nur im Netz SO denkbar und wirksam. Selbst wenn es sich um aus anderen Medien übernommene Formen handelt (wie Gespräche und Interviews), so gewinnen sie doch aufgrund der Demokratisierung (jeder darf…) und der Freiheit von vorgeschriebenen Formen und kommerziellen Zwängen einen ganz eigenen, neuen Charakter. Projekte wie sagmal.de oder die Krit-Apfel-Interviews bieten einen anderen Nutzen und muten anders an als die üblichen Zeitungs-Interviews mit Prominenten und Politikern.
Ganz besonders „netzig“, ohne dass es für Unkundige auf den ersten Blick ersichtlich wäre, sind auch engagierte Projektseiten wie das derzeitige Krit-Journal, in dem Ralph Segert, unterstützt von vielen Leserinnen und Lesern, die laufenden Ereignisse in der Folge des WTC-Anschlags verfolgt und mit ausgesuchten Quellen unterfüttert. Mit dieser Vielfalt und Geschwindigkeit bei intensivem und ganz persönlichem (!) Einsatz der Macher hält kein anderes Medium mit.
Aha, dieser Eintrag ist also eine Lobrede auf das Netz geworden! War es das, was mich bewegte, als ich mit dem Schreiben anfing? Ja und nein. Oft geht es mir so, daß ich mit einem Gefühl, einer Anmutung beginne, dann aber erst eine Art Einleitung schreibe, die ihrerseits so lange gerät, daß die übliche Beitragslänge bereits erreicht ist, ohne daß ich zum Punkt gekommen wäre (der sich seinerseits erst im Laufe des Schreibens konkretisiert).
Heute will ich es doch noch versuchen: „Real Life ist auch nur ein Fenster unter mehreren, und nicht einmal mein bestes“ – dieses geflügelte Wort eines Aktivisten aus den Urzeiten des Netzes bedeutete eine radikale Standortbestimmung, eine Neuformulierung des In-der-Welt-Seins, wie sie für die ersten Jahre typisch war, genau wie John Perry Barlows Pathos-gesättigte Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace („Regierungen der industriellen Welt, Ihr müden Giganten aus Fleisch und Stahl, ich komme aus dem Cyberspace, der neuen Heimat des Geistes“.) Der erste Net-Hype war KEIN kommerzieller, aber doch ein Hype, eine Täuschung, ein begeisterter Glaube an das neue Utopia im Internet, wo endlich alle nett zueinander sind, selbstlos zusammenarbeiten, spielen und Kunst schaffen. Das dauerte solange, bis eine kritische Masse an Teilnehmern erreicht war und das „ganz normale Leben“, zunächst in Gestalt von Wildwest-Verhältnissen und dann in Form von Kommerzialisierung und Reglementierung Einzug hielt.
In der Rückschau wird heute der utopische Hype bespöttelt und belächelt, der darauf nahtlos folgende kommerzielle Hype tränenden Auges zu Grabe getragen. Und das Netz scheint nur noch eines zu sein: Öl fürs übliche Getriebe: alles geht viel viel schneller…
Das Netz als bloße Real-Life-Beschleunigung und Effektivierung? Klar, das ist der offensichtlichste Erfolg – mit problematischen Nebenwirkungen, wie immer. Aber ich glaub‘ nicht dran, daß das schon alles ist, ich erlebe es anders. Die „virtuellen Räume“ existieren wirklich, es gibt neue Formen des Zueinanderkommens auf vielen Ebenen, Seinsweisen und Möglichkeiten, die weit über „Real Life as we know it“ hinaus gehen, es nicht nur beschleunigen oder rationalisieren, sondern ergänzen und erweitern. Mit wie vielen Menschen bin ich nicht schon in konstruktiven Austausch gekommen, die mir „real“ gar nicht aufgefallen wären, die ich vielleicht sogar abgelehnt hätte, weil mir irgend etwas an ihrer Körpersprache missfallen hätte! Wieviel Offenheit von Fremden hab‘ ich doch schon erfahren, die im RL gewöhnlich erst nach langer Bekanntschaft möglich wird, wenn überhaupt – wieviel erhellende Einblicke in das eigene Seelenleben und das Anderer! Gar nicht so selten sind daraus länger dauernde Bekanntschaften entstanden, einige Fremde sind Freunde geworden und manches schöne Projekt kam zustande, das das Licht der Öffentlichkeit nicht erblickt hätte, wäre ich auf „Real Life“ angewiesen gewesen.
Der Ursprung aller Netzkommunikation ist einst wie heute E-Mail: immer schon da seit das Netz existiert, die „Killer-Applikation“, nach der später so verkrampft gesucht wurde. E-Mail kann natürlich als reines Add-On zum Real-Life genutzt werden: Sachliche Botschaften, kleine Nachrichten aus dem Alltag, Stimmfühlungslaute: Hallo, es gibt mich noch!. Aber Mail hat auch ein anderes Potetial, nämlich den, ein „Virtual Life“ mit eigenen Räumen und Möglichkeiten zu erzeugen, den es ansonsten „nirgendwo“ gibt. Psychologen sprechen in diesem Zusammenhang gelegentlich von „Beichtstuhlatmosphäre“, welch ein abschreckender Begriff! Und sie WARNEN denn auch den User vor dem Mailen, vor dem Sich-Öffnen und Sich-Zeigen, ganz besonders gegenüber Fremden.
Jetzt bin ich also endlich angekommen bei meinem Thema von heute – und muß es nun doch vertagen, sonst wird dieser Text zu lang. So far: Fortsetzung folgt! :-)
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