Claudia am 04. Oktober 2001 —

Carr genügt nicht

Heute ist der fünfte rauchfreie Tag. Nach der letzten Ohne-Phase gab es die übliche Übergangszeit als Wenig-Raucherin – bis dann nach zwei kurzen Wochen der alte Zustand wieder hergestellt war. Und „normal“ sind bei mir so etwa dreissig am Tag, manchmal auch mehr. Dreißig, vierzig Zigaretten, die mich von morgens nach dem ersten Kaffee bis spät abends in einem Zustand kontrollierter Gewöhnlichkeit halten: Alles im grünen Bereich.

Emotionen, falls überhaupt welche die Schwelle der Wahrnehmung überschreiten, werden mit der nächsten Dosis beantwortet. „Erst mal eine rauchen, dann sehen wir weiter…“. Dieses „weiter“ erübrigt sich dann jedes Mal aufs Neue, wenn der einströmende Qualm mit all seinen Nervengiften und Wirkstoffen das innere Gerüst wieder verstärkt, die Sauerstoffaufnahme drosselt und alle scharfen und klaren Empfindungen in der großen Wattigkeit versenkt, die sich lähmend über die Lebendigkeit legt wie Mehltau auf einen blühenden Rosenstrauch.

Es ist leicht, mit dem Rauchen aufzuhören, da hat Alan Carr ganz recht. Schon nach 24 Stunden etabliert sich ein ganz anderes und sehr viel angenehmeres Körpergefühl, die Lungen haben sich bereits deutlich erholt, der ganze Gestank ist weg und auch der schlechte Geschmack im Mund. Binnen kurzer Zeit entfaltet sich eine andere Normalität, die einem allerdings noch nicht gleich als solche erscheint: RUHE in allen Zellen, echte Stille, nicht diese nervöse Zittrigkeit, die sich schon bald nach einer Zigarette aus dem Gefühl der Wattigkeit erhebt und nach der nächsten verlangt. Wow, was für ein Feeling! Sogar die Gedanken verlangsamen sich und neigen nicht mehr zum Jagen – dafür bräuchte ich ansonsten mindestens zwanzig Minuten konzentriertes „Sitzen in Stille“.

Andrerseits ist jetzt wieder das ganze verläßliche Auf und Nieder des Begehrens zum Teufel, das sich im „Raum des Rauchens“ so berechenbar zwischen Kick und beginnendem Entzug einstellen läßt (zumindest solange man das Stadium des Kettenrauchens noch nicht erreicht hat). Lähmung, Beruhigung, Betäubung, nach Entzugsphasen kurze verläßliche (!) Kicks, immer etwas zum Festhalten, ein Schnuller fürs innere Kind, stoffgewordenes Mantra „Alles ist gut!“.

Was tatsächlich ist, spürt man, wenn der Schnuller weg ist – auch dann noch und gerade dann, wenn man NICHT mehr das Gefühl hat, schnellstens wieder einen Schnuller im Mund spüren zu wollen. Eine Flut aus Wünschen und Begierden macht sich bemerkbar, ein heftiges aber vom Kopf noch nicht definierbares Verlangen, das sich fürs erste als Oralität (Freßgier!) darstellt, aber oft genug einfach in Reizbarkeit, Ungeduld und Agressivität umschlägt. Nicht ständig, keineswegs, sondern nur für Momente, Momente der Unachtsamkeit, in denen man auch noch gern den Fehler macht, einem der chaotischen Gedanken aufzusitzen, die während solcher „Anfälle“ beiläufig produziert werden: Heureka, da ist er, der mögliche Grund meiner aktuellen Mißstimmung…. er ist es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht!

Was es ist

Der Fluß der Libido, die Pforten der Wahrnehmung, das Verhältnis von Reiz und Reaktion – all diese wichtigen Möblierungen individuellen Seins geraten aus der je real existierenden Ordnung, wenn man eine lang gewohnte Psychodroge wegnimmt (oder eine neue hinzufügt). Rauchen hat für mich immer etwas geleistet, mir definitiv etwas geboten: es ist ein Mittel, das es leichter macht, sozusagen ein „falsches Leben im Falschen“ zu führen.

Flachland-Denker wie Alan Carr werden nie zugeben, dass man bei vollem Bewußtsein „die blaue Pille“ wählen kann (->Matrix), weil der andere Weg gerade als zu beschwerlich und wenig verlockend erscheint. Es ist weit einfacher, zu rauchen wie ein Schlot und in einem „inneren Gerüst“ zu leben, als sich den Gefühlen und Empfindungen des Augenblicks zu öffnen – ohne jede Absicherung, was alles an Reaktionen, Gedanken und aktiven Lebensveränderungen daraus entstehen mag. Ganz ähnlich ist es mit dem Alkohol: Es ist weit einfacher, sich gelegentlich bis zum Filmriß zu betrinken und so die eigene Rationalität kurzzeitig abzuschalten („mal was ganz Wildes erleben“), als tatsächlich in voller Wachheit hier und jetzt und womöglich mitten im Geschäftsleben das eigene rechnende Denken, das vernünftige Sich-Verhalten-Wollen aufzugeben.

Was ich tue oder lasse, entscheide ich in all diesen Zusammenhängen übrigens ganz allein. Immer mehr merke ich, daß die Einflüsse Anderer, die mich vom „richtigen Leben“ und vom „wahren Weg“ überzeugen wollen, eher schaden als nutzen. Zu glauben, ich träfe meine jeweilige Wahl nach einer übernommenen oder selbst gebastelten Moral, wäre sowieso reine Selbsttäuschung. Heute ist es für mich einfach genauso spannend und abenteuerlich, eine Droge beiseite zu lassen, wie es das früher war, einen wirkungsmächtigen Stoff in die Psyche einzubauen. Nachteil ist Vorteil: dieses Erleben steht nur langjährig Süchtigen offen! :-))

Ich strebe übrigens auch nicht mehr an „für immer Nichtraucher“ zu werden oder zu bleiben. Etwas Wichtiges in die Zukunft zu vertagen, etwas WERDEN oder IMMER BLEIBEN WOLLEN ist gerade Teil der Verwirrung, die man mit Drogen oder anderen neurotischen Verhaltensweisen schlecht und recht stabilisiert. Ich will den Kick, die Freude, die Ekstase, die Gefahr und das Abenteuer, die ganze Lebenslust im echten Leben, hierjetzt also!

(…wenn sich jetzt jemand motiviert fühlen sollte, weise die Stirne zu runzeln und mir zu mailen, jegliches Streben nach Kick & Glück sei ganz falsch: bitte nicht! Verlorene Liebesmüh! Hab ich in tausend vermutlich besseren Formulierungen im Bücherschrank stehen und entsorge es alle Jahre wieder – immer dann nämlich, wenn ich zu meiner inneren Flamme zurückfinde, zu dem, das MEHR will als sich mit dem zu arrangieren, was gerade ist.)

Bye bye Carr!

Mit Alan Carrs hilfreicher Gehirnwäsche kann man vom Rauchen loskommen, kann lernen, was diese Sucht ist und wie sie funktioniert. Dass es die „wahre Zigarette“, die man „wirklich“ genießt, nämlich gar nicht gibt, sondern daß da immer nur ein Mechanismus aus Entzug und Nachschub wirkt und wechselnde Gefühle erzeugt. Nach ein paar Tagen „ohne“ schmeckt die Zigarette nicht mehr – man muß erst wieder den Mechanismus einüben, erst wieder „ins Geschirr“ steigen, um überhaupt wieder die Anmutung zu bekommen, die Zigarette würde einem etwas geben. In Wahrheit ist da nämlich NICHTS, nichts als das gute Gefühl, wenn der Schmerz (Entzug) nachläßt – und auch das nur dann, wenn man es bis zum Entzug kommen läßt, über Nacht zum Beispiel. Normalerweise spürt man als Raucher ja nicht mehr viel, am wenigsten von den vielen Zigaretten, die man verbraucht und teuer bezahlt, um in diesem Zustand verweilen zu dürfen.

Man kann den „Raum des Rauchens“ mit all seinen Folgen und Begleiterscheinungen betreten und verlassen – aus heutiger Sicht scheint mir das eine so schwer bzw. leicht wie das andere. (Es war schließlich verdammt schwer, sich das Rauchen anzugewöhnen, damals, mit fünfzehn…) Das „Verlassen“ kann man von Carr lernen, es geht vergleichsweise leicht, wenn man die von ihm empfohlenen Geisteshaltungen und Denkweisen übernimmt. Aber schon bald ist man „drüber weg“ und dann braucht es gute Gründe, echte Motivationen, wirklich EIGENE Haltungen, um nicht wieder nach dem „inneren Gerüst“ zu greifen. Es reicht nicht, über Suchtmechanismen und übliche Selbsttäuschungen in Bezug aufs Rauchen Bescheid zu wissen, man muß anders FÜHLEN, nicht nur anders DENKEN.

Carrs Buch „Für immer Nichtraucher“ ist nichts als eine mengenmäßige Aufblähung derselben Inhalte, die aus „Endlich Nichtraucher“ weidlich bekannt sind, gespickt mit unzähligen unterhaltsamen Anekdötchen aus seinem Leben als Raucher, Nichtraucher und Nichtraucher-Guru. Und tatsächlich hab‘ ich Reaktionen von Leuten gelesen, die sagten, das Buch gäbe ihnen mehr, weil sie länger brauchen, um diesen Wälzer durchzulesen! Tja, da kann ich nur raten: Immer wieder von vorne anfangen, nie wieder ‚was anderes lesen, dann bleibt man ganz bestimmt

f ü r    i m m e r    N i c h t r a u c h e r .

(Das Thema E-Mail hab‘ ich nicht vergessen, nehm‘ ich gelegentlich wieder auf).

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