Heut‘ Nacht konnte ich kaum schlafen und doch erinnere ich mich an einen langen Traum: Ich war amerikanischer Soldat und fürchtete mich vor anderen amerikanischen Soldaten, die mit dem Auftrag unterwegs waren, alle Kollegen einzufangen, die bereits am Milzbrand erkrankt waren. Wegen der Ansteckung. Milzbrand hatte ich nicht, aber Angst. Nicht ganz so schlimm, wie man das aus einem typischen Alptraum kennt, sondern eher so, als sähe ich einem Film zu, in dem ich die Angst spielte. Wie eigenartig! Im Wachzustand empfand ich bisher nämlich nicht den Schimmer einer Angst in dieser Sache, das Unbewußte macht mal wieder, was es will.
Offenbar geht es nicht nur mir gerade nicht besonders gut – ich nannte es gestern der Einfachheit halber „Herbstdepression„. Immer gut, der Sache einen Namen zu geben, noch dazu einen von der Jahreszeit oder dem Wetter abhängigen, da ist schon gleich mitgesagt, dass es ganz von selbst wieder vorüber geht. Eigentlich lehren uns das die alten Märchen: Wenn irgendwelche Bösewichter, Geister, Gnome, Teufel, feindliche Zwerge und dergleichen dem Held der Geschichte Angst einjagen, dann kann er sie nur dadurch loswerden oder freundlich stimmen, daß er ihren Namen findet. „Ach wie gut, daß niemand weiß, daß ich Rumpelstilzchen heiß“ – aber die Königin hat es dann doch herausgefunden!
Das Namen-Vergeben ist eine sehr menschliche Macht: mit der Benennung distanzieren wir uns, grenzen das, worunter wir leiden, als Phänomen vom Ganzen ab und können dann damit umgehen: es ist zum Objekt geworden, das man ins Regal stellen oder an Spezialisten weiter reichen kann. Herbstdepression: damit könnte ich zum Arzt gehen und er wüßte ganz sicher ein Mittelchen dagegen. Aber solange ich nur aufs Papier starre und nicht in der Lage bin, zu schreiben, und meine Formulare angucke anstatt sie auszufüllen, solange ich grüble, was wohl der „reale“ Grund meiner diffusen Ängste ist und alles und jedes daraufhin abklopfe, ob es mir irgendwie schaden kann oder gar will, womöglich noch weiter grüble, was das alles für die Zukunft bedeuten mag, solange bin ich ganz drin in der Sache, hoffnungslos verstrickt ins eigene Kopfkino.
Zum Arzt werd‘ ich natürlich trotzdem nicht gehen, bewahre! Das hilfreiche Spiel mit der Etikettierung der Phänomene führt oft genug in die Irre, wenn man die Ebenen wechselt und versucht, materiell einzuwirken auf etwas, das man ja nur geistig abgegrenzt hat. Nur in meinem Denken, dem ich durch das Vergeben von Namen bestimmte Gestalten gebe, existiert die „Herbstdepression“ als „Sache“. Sobald ich ein Mittel, eine Droge, ein Psychopharmakon einwerfe, beraube ich mich aller Flexibilität, z.B. der, die Dinge wieder ganz anders zu sehen. Die Wirkungen müssen dann erstmal ausgestanden werden und bringen alles durcheinander: unmöglich, zu wissen, was jetzt alles Wirkung ist und was nicht. Ich werde zum Spielball unbekannter Stoffe, zum Objekt freundlicher Spezialisten, für die ich typischerweise als ganzer Mensch kaum existiere, sondern eben nur als „Depressive“.
Klar, wenn es so schlimm ist, daß man morgens nicht mehr aufstehen will, ist vermutlich eine Tablette besser, als wochenlang liegen zu bleiben! Ich hab‘ gut reden, halte ich mich doch mit meinen Betrachtungen im Reich von Stimmungen auf, die sich binnen Stunden oder maximal Tagen völlig verändern können. Mehr noch: gelegentlich geht mir die Welt, wie ich sie betrachte und dadurch ein Stück weit mit schaffe, derart auf die Nerven, daß ich mich selber gern mal in die verführerischen Arme einer Droge (z.B. Chianti) werfe, damit sich „auf die Schnelle“ ‚was ändert. Das ist dann wie Karusell-Fahren in einem kaputten Fahrgeschäft: am Anfang macht es Spaß, doch dann wird’s mir schlecht, weil es viel zu lange dauert; ich bin gefangen in den Wirkungen der Stoffe.
Wer die Macht der Worte gegenüber der banalen Wirkung der Stoffe rühmt, darf nicht enden, ohne auf die Rückseite der Medaille hinzuweisen: „Was für ein schöner Sonnenuntergang!“ – so ein Satz, mitten hineingesagt in eine wundersame Abendstimmung, die uns als ganzer Mensch ergreift, kann genau diese Stimmung zerstören. Benennen ist eben auch Töten, und meistens wollen wir das nicht. Niemand hat das schöner ausgedrückt als Rilke in einem Gedicht „Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort“..
Gestern schrieb mir ein Leser, das Digital Diary könne ja nun nicht mehr mit „vom Leben auf dem Land“ untertitelt bleiben. Richtig, ich hatte zwar das ursprüngliche „Vom Leben auf dem Land und in den Netzen“ im Titel der Website verändert, aber noch nicht im Logo. Da steht jetzt erstmal „Vom Sinn des Lebens zum Buchstabenglück“. Mehr ist mir gestern nicht eingefallen, doch ist das eher ein Name mitten aus der Herbstdepression. Falls also jemandem von Euch ein passender Untertitel einfällt, schreibt mir bitte!
Und jetzt mach‘ ich mich an die Formulare…
Angler an der Spree, 20 Minuten Fußweg von meiner Wohnung
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