Ein berühmter Schriftsteller und ein ebenso berühmter Soziologe im TV-Gespräch über das Elend der Welt. Beide über 60, gelten sie heute als „alt-linke Dinosaurier“, deren archaische Sicht der Dinge man nicht mehr ernst nehmen müsse – so zumindest der Tenor in der heutigen Medienlandschaft.
Ich höre immer gern allen zu, die zu einem geistvollen Gespräch in der Lage sind und das Elend der Welt nicht ausblenden. Trotzdem, wenn ich sie so im Modus der Analyse, Klage und Anklage reden höre, wächst meine Unzufriedenheit stetig. Am liebsten möchte ich dazwischen rufen: Hey Leute, die Welt ist nicht mehr SO! Natürlich stimmt alles, was sie sagen, ihre Analysen sind treffend und ihr Blick reicht weit: Die neoliberale Wende, der „wild gewordene“ Kapitalismus, die zunehmende Machtlosigkeit der Staaten angesichts der Globalisierung und die Schwierigkeit, als denkender Intellektueller überhaupt in den Medien zu Wort zu kommen.
Alles richtig, wenn ich auch bezüglich des letzen Punktes anmerken würde: Kommt doch herunter aus eurem massenmedialen Prominenten-Olymp und beglückt uns zumindest mit einer aktuellen Homepage! „Günter Grass schreibt zu Themen der Zeit“ würde sicher mehr Leser finden als dieses Diary. Aber sie denken eben an „Millionen Zuschauer“ oder „Hunderttausende Leser“ und sind sich fürs chaotisch-kleinteilige Web zu schade – obwohl doch heute jeder weiß, dass „ein Schmetterlingsflügel in China einen Orkan am andern Ende der Welt auslösen kann“.
Keine Bewegung
Warum aber – und hier liegt der Kern der Klage dieser älteren Generation – weht nicht mal mehr ein mittlerer Frühlingswind „von links“ ? Wie ist der Durchmarsch neoliberaler Gedanken zu erklären, der seit längerem schon „die Linke“ als konservativ und gestrig erscheinen lässt – und was wäre dagegen zu tun?
Ich glaube nicht mehr, dass man etwas dagegen tun kann – nicht in dem Sinne, wie diese Generation es meint und zu denken gewohnt ist: Der Einzelne möge seine Interessenlage erkennen, sich mit anderen zusammenschließen („solidarisieren“) und den Kampf gegen – ja gegen wen eigentlich? – mutig aufnehmen: Öffentlichkeit schaffen, Zeichen setzen. Protestaktionen durchführen, etc. usf.. Gelegentlich geschieht das ja, nämlich immer dort, wo der Besitzstand einer Gruppe konkret angegriffen wird (- z.B. aktuell in Berlin der Kampf um die Erhaltung des Benjamin-Fränklin-Krankenhauses als Uni-Klinik). Gelingt es den jeweils Betroffenen, die Sparmaßnahme abzuwehren, wird eben an anderer Stelle gestrichen: bei denen, die sich weniger wehren können. Ist es das, was die beiden Redner meinen? Wohl kaum – was aber dann?
Kampf dem Kapital?
Vermutlich sind bis hierher bereits über die Hälfte meiner täglichen Leser ausgestiegen: zu politisch, Langeweile droht! Und ich kann das sogar mitfühlen, empfinde ich doch selber den gewissen Fluchtimpuls gegenüber dem Polit-Jargon der alten Linken, gegen den Gestus der Entrüstung (inmitten eines doch gar nicht so schlechten Lebens!) und diese immer sehr abstrakt bleibenden Verdammungen und Forderungen. WO bitte steht denn der Feind, ganz konkret? Was sollen wir genau tun, wenn wir uns denn aus den Hängematten der Spaßgesellschafft aufraffen?
Dem Großschriftsteller und dem Soziologen ist dazu nicht viel eingefallen: Ja, die Gewerkschaften haben es schwer heute, Arbeitslosenbewegungen sind nicht in Sicht – wenigstens sollten die Intellektuellen in Europa etwas mehr miteinander reden. Hm…
Ein früherer Nachbar erzählte mir kürzlich, dass ein in meinem alten Kreuzberger Heimatkiez recht bekannter „Autonomer“ sich letztens in der New Economy schwer verspekuliert habe – ob er wohl nach dieser Erfahrung wieder für einen „Kampf gegen das frei flottierende Kapital“ zu gewinnen wäre? Ich zweifle daran. Insgesamt wird es auch schwieriger, gegen die pure Gewinnmaximierung zugunsten der Anleger zu argumentieren, wenn erstmal deutliche Teile der Betriebsrenten mittels Aktienfonds erwirtschaftet werden – wie in den USA lange schon und neuerdings auch bei uns.
Wie vermutlich viele andere auch, bin ich nicht blind gegenüber der „sozialen Frage“, sehe die zunehmenden Missstände und rege mich darüber auf, dass internationale Unternehmen kaum mehr Steuern zahlen, der Staat also immer weniger Geld umzuverteilen hat. Wenn ich mir dann aber irgend eines der Übel in unserer Gesellschaft konkret betrachte, stelle ich jedes Mal fest, dass ich mit der altlinken Brille nirgendwohin komme, ganz sicher nicht in die Nähe einer Lösung, die dem gesunden Menschenverstand entspricht und in absehbarer Zeit auch umsetzbar wäre. Ja, ich würde mit meinen Verbesserungsvorschlägen sogar in direkten Gegensatz zu linken Institutionen und Errungenschaften geraten.
Ein Beispiel für viele: Die Berichte, wie heutzutage ambulante Pflege abläuft, bedrückt mich und regt mich jedes Mal auf, wenn ich davon höre. Da hetzen Pflegekräfte durch die halbe Stadt, um etwa einer alten Frau zweimal am Tag eine Insulinspritze zu setzen, ein Einsatz, für den ganze drei Minuten vorgesehen sind – und länger darf sich die Pflegerin auch nicht aufhalten, will sie ihr Pensum schaffen. Jeder Handgriff und jede Dienstleistung ist genormt, in wenigen Minuten abzuleisten, Zeit für Gespräche und Zuwendung bleibt nicht. Der Konkurrenzkampf der Pflegedienste ist horrormäßig und die Gelder werden insgesamt immer knapper. Kaum jemand hält in diesem Beruf lange durch, das „Ausbrennen“ ist an der Tagesordnung.
Durch die linke Brille gesehen ist alles ganz klar, aber leider unlösbar: MEHR GELD würde gebraucht, Geld, das nicht da ist, weil das Kapital sich um die Alten und Kranken einen Dreck schert, die ja nicht mehr im Produktionsprozess gebraucht werden. Die Beiträge für die Pflegeversicherung zu erhöhen, wäre zwar eine Verbesserung, aber andrerseits problematisch, muss man doch die Arbeitskosten niedrig halten, sonst verdrücken sich die Firmen ins Ausland. Immer dasselbe Elend – und die in den Sechzigern übliche Perspektive „Revolution“ liegt ja lange schon (und zu Recht) auf dem Müllhaufen der Geschichte.
Vernünftig = unmöglich
Gibt es GANZ ANDERE Möglichkeiten? Im Haus, in dem die alte Frau mit dem Insulinbedarf lebt, wohnen statistisch gesehen etliche Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, rüstige Rentner, Studenten, Eltern im Erziehungsurlaub und andere Nicht-Arbeitende. Wäre es nicht ein Leichtes, einen von ihnen dafür zu gewinnen, „den Job“ bei der alten Dame zu übernehmen? Gegen Geld und vertraglich verlässlich vereinbart, ich rede nicht vom Ehrenamt! Es würden keine Fahrwege anfallen und mit Sicherheit wäre die Plauderei rund um die Spritze eine Selbstverständlichkeit, wenn jemand so etwas nicht den ganzen Tag und in der halben Welt, sondern nur mal eben in der Nachbarschaft bei den immer gleichen Leuten tut. Stadtverkehr würde vermieden, Benzin, Zeit und Kosten gespart, nutzlose Hetze wäre kein Thema mehr.
Aber so etwas Vernünftiges ist natürlich unmöglich! Da würden ja viele Pflegekräfte arbeitslos und an das bürokratische „Eintüten“ der geringfügigen Nebentätigkeit bei all den genannten Nicht-Arbeitenden ist schon gar nicht zu denken! Wie wären denn auf diese Minimalbeträge Steuern und Sozialabgaben zu erheben? Müsste man sie nicht auch mit den bereits bezogenen Leistungen verrechnen? Und was wird aus den professionellen Pflege-Standards, wenn jeder solche Dienstleistungen erbringen dürfte ?
Eine ganze Lawine von Fragen, durchweg solche, die Strukturen und Besitzstände, Gewohnheiten und alteingefahrene Denk- und Organisationsweisen in Frage stellen – die aber zu ihrer Lösung immerhin nicht die Weltrevolution brauchen. Man stelle sich vor: mit dem Netz-Anschluß in (fast) jedem Haushalt wäre das tatsächlich breitflächig organisierbar (mit etwas mehr Mühe auch ohne) – und nicht nur in der Pflege. Es gibt jede Menge, auch private Dienstleistungen, für die eine nachbarschaftliche Organisation das einzig Sinnvolle wäre – warum wird das nicht mal mehr angedacht? Warum muß ein „Objektbetreuer“ einer Reinigungsfirma von Berlin Hellersdorf zwei Stunden nach Potsdam fahren, um dort fünf Quadratmeter Rasen zu mähen?
Ich halte das für kollektiven Wahnsinn, strukturell zementiert, gerade auch durch „die Linke“, die mittels der Gewerkschaften mit aller Macht am Vollzeitarbeitsverhältnis in den uns vertrauten Strukturen festhält. Und ich glaub‘ nicht dran, dass sich daran etwas ändern wird, solange es den meisten noch so vergleichsweise gut geht. Wenn das eines Tages mal nicht mehr der Fall sein sollte, gibt es vielleicht Zoff wie in Argentinien – aber auch nicht die vernünftigeren Lösungen.
Diesem Blog per E-Mail folgen…