Eine der großen Freuden des Webpublishings ist die schnelle Resonanz. Manchmal vergehen nur wenige Stunden und schon steht ein Kommentar zum neuesten Eintrag im Forum. Ein Kommentar, der wiederum von anderen kommentiert wird, vor allem dann, wenn es sich um Kritik, Einspruch und Widerrede handelt. Und niemand sülzt nur blöde vor sich hin! Zwar geht es gelegentlich auch härter zur Sache, aber der Ton bleibt in der Regel höflich und aggressive Kurzbotschaften fehlen ganz – genau, wie ich es mir wünsche.
Heute schrieb ein Familienvater, er frage sich, ob wir eigentlich auf demselben Planeten leben. Während ich mit Themen wie „Langeweile“ einen „pseudo-intellektuellen Füllfunk“ betreibe (köstliche Formulierung!), ist er offensichtlich in einen stressigen Alltag mit zwei Kids eingespannt und hat andere, irgendwie ECHTERE Probleme. Ich solle mich doch „einer Aufgabe zuwenden“, um meine offensichtlich allzu viele freie Zeit mit Sinnvollerem auszufüllen.
Ja, wär‘ das nicht was? Eine berechtigte Frage, die ich mir auch immer wieder stelle – allerdings nicht beim Diary-Schreiben, denn dabei bewegt sich mein „Sinn-Gefühl“ ziemlich weit oben auf der nach oben offenen Sinnverwirklichungsskala. Schreiberglück, ich weiß, nicht unbedingt nachvollziehbar für Menschen, die von einer drängenden Pflicht zur nächsten jagen, die Verantwortung für andere, insbesondere Kinder tragen, und deshalb so einen „Raum des Für-sich-seins“ als Luxus, ja, als Provokation empfinden müssen.
Familie – das wahre Leben?
Während der zwei Jahre, die ich auf dem Land lebte, bekam ich den Alltag einer Familie mit drei Kindern aus nachbarlicher Nähe mit. Die mussten morgens in verschiedene Schulen gefahren und mittags wieder abgeholt werden. Jemand musste dann darauf achten, dass sie die Küche nicht auf den Kopf stellten und auch mal was anderes als Cornflakes und Süßriegel zu sich nahmen – und dann das Problem Hausaufgaben! Alles unter verschärften Bedingungen, denn die Kids stritten sich ständig – ein für Erwachsene kaum begreifbarer Geschwisterhass, der jeden Moment in körperliche Gewalt umschlagen konnte. Es folgten die Freizeitaktivitäten, die vielfältigen „Förderangebote“: Theatergruppe, Reitunterricht, Ballettstunde, Chor, Besuche bei anderen Kindern – und all das musste organisiert, geplant und überwacht werden. Aus meiner Sicht wussten die Eltern nicht, wo ihnen der Kopf stand. Ich hab‘ sie gleichzeitig bewundert und bedauert. Sie waren bei alledem ja nicht „nur“ Eltern, sondern voll und teilweise berufstätig, dazu noch Schlosseigentümer mit nicht unerheblichen Verwaltungsaufgaben. Was für ein Leben! Das „wahre“ Leben? Oder gerade KEIN Leben, sondern nur Stress und Chaos und keine Minute der Besinnung?
Oft fühlte ich mich innerlich gefordert, den Nachbarn irgendwie „helfen“ zu sollen. Schließlich hatte ich freie Zeit, die ich so oder so verbringen konnte, sie hatten einen übervollen Tag und jede Menge Stress. Aus der Nähe betrachtet erschien das dann ganz unmöglich, ja absurd! Mein „Helfen“ wäre nämlich immer nur der Versuch gewesen, sie von dem zu befreien, was mir als so schrecklich und belastend erschien, von diesem ständigen Eingespannt-Sein, den vielen Terminen und Pflichten. Zu meinem Erstaunen strebten sie das aber gar nicht an. Zwar zeigten sie offen ihre Belastung, schimpften und klagten auch mal, taten aber doch nichts, um die Lage in der von mir für „richtig“ befundenen Richtung zu verändern. Im Gegenteil, sie schafften sich noch einen großen Hund an, der die organisatorischen Probleme locker verzehnfachte. So ein Riesenvieh muss ja irgendwo bleiben, wenn alle unterwegs sind, muss gefüttert werden, braucht Zuwendung und Auslauf. Das bald schon unübersehbare Leid des Hundes brachte mich in Gefühlskonflikte gegenüber den Freunden. Musste der denn wirklich noch sein? Und er blieb nicht die letzte Anschaffung, es folgten weitere Tiere, MEHR Vorhaben und Projekte – eine ständige Erweiterung und Bereicherung dessen, was der Familie als das „richtige Leben“ vorschwebte – und mir als stets zunehmendes Elend.
Sinn: Fragen und Antworten
Was ist richtig? Was ist wirklich und wahr? Angesichts der ganzen familiären Umtriebigkeit, die mir mal als der reine Horror, mal als fröhliches Idyll erschien, wurde mir klar, dass sich die Frage nach dem „richtigen Leben“ nicht abstrakt und aus dem Kopf beantworten lässt. Jeder ist selbst die Antwort – für sich und für niemanden sonst. Beide Seinsweisen, das Leben mit Familie und das Allein-Stehen, haben katastrophale Nachteile und wunderbare Vorteile. Was immer man wählt, man wird leiden und gelegentlich verzweifeln. Und genießen, was sich auf der jeweiligen Sonnenseite bietet: Geborgenheit und Verbindlichkeit, bedingungslose Liebe – oder eben Freiheit und Unabhängigkeit, die Möglichkeit, von einem Tag zum anderen etwas Neues anzufangen, ohne dass irgend jemand darunter leiden müsste.
Sinnvolle Aufgaben gibt es überall, mit und ohne Familie. Manchmal stehen so viele vor mir in einer Reihe, dass ich mich am liebsten unter die Bettdecke flüchten würde und gar nichts tun. Ich könnte einen doppelt so langen Tag locker mit Aktivitäten füllen und meine damit nicht nur für Andere bedeutungsloses Larifari. Mein Sinngefühl lässt sich bei alledem nicht festnageln. Mal fühle ich mich mitten in einer sozial-nützlichen Tätigkeit völlig daneben, ein andermal im zweckfreien Spiel mit Kreativität und Kommunikation ganz zuhause. Oder es erwischt mich die große Langeweile, wenn ich eine Maus auch nur anfasse…
Täglich besuchen bis zu zweihundert Leser dieses Diary. Manche schreiben mir, dass es ihnen einen ruhigen Moment der Besinnung inmitten ihres stressigen Tags bietet. Das freut mich dann, denn offenbar gibt es einen Funken „Nützlichkeit“ auch inmitten eigentlich nutzlosen Tuns. Ein paar Minuten Buchstabenglück. Nicht nichts.
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