Der Winter ist nun wirklich weg! Wärme, Sonne – Menschen flanieren wieder auf den Straßen. Ostern ist dieses Jahr genau das, was es sein soll: Ein auf allen Ebenen fühlbarer Einschnitt zwischen dem Alten, Abgelebten, und dem Neuen, von dem man noch nicht weiß, was es sein wird. Ein Gefühl positiver Spannung, ein Hauch von Wandel, Abenteuer, Aufbruch, dem ich am besten in größtmöglicher Wachheit begegne, sonst verliere ich mich leicht in den vielerlei Aktivitäten, die sich jetzt anbieten, und lande schon bald in verstärktem Chaos.
Also: Inventur! Auf einen Zettel schreibe ich alles, was mir einfällt, alle Vorhaben, Pflichten, Wünsche, Pläne, Notwendigkeiten, die sonst immer nur punktuell „einfallen“, mich plötzlich überfallen und des öfteren aus dem Takt bringen. Querbeet wird alles gelistet, vom bisher verschleppten Brief ans Finanzamt über den anstehenden Relaunche des Webwriting-Magazins bis hin zum Einpflanzen der Ableger einer großen Dieffenbachia, die noch auf dem Küchenfenstersims in der Vase stehen. Mein Áuto will ich auch endlich los werden, ein alter, stellenweise leicht verbeulter Citröen AX, der mir noch aus der Zeit des Landlebens geblieben ist. Hier nutze ich ihn gerade mal, um ins Fitness-Center zu fahren, völlig irre!
Die Liste stimmt mich zufrieden, sie schafft Klarheit, indem sie sowohl die unangenehmen Dinge als auch die ganz verrückten Träume umfasst – ach, was heißt hier schon verrückt? Das sind einfach Vorhaben und Projekte, von denen ich normalerweise annehme, dass ich sie sowieso nie schaffen werde, rein zeitlich und energiemäßig betrachtet. Wenn ich aber mal bedenke, wie viel Zeit ich doch tatsächlich mit Lesen und Fernsehen verbringe, dann kann das so einfach nicht stimmen. Irgend etwas ist falsch an der Herangehensweise, wie ich meinen Alltag verlebe, wie ich mich täglich im Reich der Notwendigkeit verstricke, mich dann allzu gern ablenken lasse, in dieses & jenes hinein gerate, ohne da wirklich etwas Merkliches zu leisten, und dann entsprechend frustriert nach „Abschalten“ verlange.
Bei alledem ist es nicht besonders hilfreich, den Kopf schon jahrzehntelang mit unüberschaubar vielen Gedankengebäuden, Weltanschauungen, Philosophien und Ideologien belastet zu haben. Zu jedem Impuls, der mich von etwas ablenkt oder zu etwas Anderem hinzieht, fallen mir gleich unzählige Begründungen und Rechtfertigungen ein: Warum das, was ich gerade unterbreche, sowieso das Falsche ist, bzw. das, was ich statt dessen ins Auge fasse, mich näher ans „eigentliche Leben“ führt – oder auch umgekehrt. Zum Beispiel kann ich es locker als „Flucht vor der Wirklichkeit“ werten, wenn ich ins Fitness-Center aufbreche oder in die Sauna gehe, anstatt endlich die Website für meine Eigenwerbung zu konzipieren oder zur Meldestelle zu gehen, um Ersatz für den verlorenen Führerschein (wie sinnig!) zu beantragen. Andrerseits kann es als Gipfel der Seinsvergessenheit erscheinen, den Tag vor dem Monitor in einer Welt aus Zeichen zu verbringen, anstatt im Körper, in der physischen Umwelt mit der Natur, der Stadt und konkreten anderen Menschen „face to face“ zusammen zu kommen. Ein ständiges Ebenen-Zapping, wobei der aktuelle Aufenthalt tendenziell immer als das Falsche erscheint.
Alle Aktivitäten, die dem Geldverdienen dienen, sind besonders betroffen von diesem Oszillieren der Bewertungen: einerseits erscheint es als das einzig Reale, sich dieser Notwendigkeit mit aller Kraft und Kreativität zu stellen – und alles Andere wäre bloße Ablenkung und Flucht. Andrerseits ist der ökonomische Bereich am schärfsten in Verruf, das „falsche Leben“ rein kommerzieller Strebungen zu repräsentieren, wo der Mensch alles und jedes als Mittel zum Zweck benutzt, der Blick von Hunger und Gier verdunkelt ist und der Andere nur noch als Kunde oder Konkurrent wahrgenommen wird. Besser man macht Kunst, betätigt sich als Kulturschaffende, bedient das Reich des Kostenlosen, das ohne Sünde ist…. was für ein Quark, alles reines Kopfkino!
Komischerweise erlebe ich diese Gefährdung durch Verzettelung, Unentschlossenheit und schwankende Urteilskraft als ein Ergebnis persönlichen Fortschritts (mehr zugestoßen als erarbeitet, aber immerhin) auf dem Weg vom automatenhaften Reagieren hin zu mehr Freiheit der Wahl. Mit 20, 30, 35 wusste ich immer sehr genau, was gerade anliegt: was ich tun muss und was ich tun will, wann das zusammenfällt oder weit auseinander liegt. Angst und Ehrgeiz leiteten mich problemlos vom Gestern ins Morgen. So etwas wie eine offene Gegenwart kannte ich nicht, nicht mal beim Sex. Die Reiche des Denkens, der Gefühle und der Körperempfindungen waren fest miteinander verkettet: Sagte einer etwas vermeintlich Feindseliges, hielt ich den Atem an, krampfte den Bauch zusammen und spannte die Nackenmuskulatur mehr an als gewöhnlich an, ohne dass mir all diese Körperreaktionen bewusst geworden wären. Ich reagierte SOFORT mit Angst-, Ärger-, oder Hassgefühlen, die sich ohne Zögern in verteidigende oder angreifende Gedanken mit entsprechender Rede und den daraus folgenden Taten umsetzten. Freiheit bedeutete für mich, genau SO sein zu können. Reagieren, ohne an Grenzen zu stoßen, mit den Impulsen mitgehen, die mir begegnen, ohne deren Herkunft und Wesen je zu bedenken: Was ich fühle und wünsche, ist GUT, was mich hindert und einschränkt ist SCHLECHT, ist böse Welt und reine Unterdrückung.
Wenn ich das noch mal lese, was ich da gerade hinschreibe, fällt mir auf: Wow, das ist ja der Geist der Jugend! „An sich“ ist dieser Geist nicht gut und nicht schlecht, sondern unverzichtbarer Teil des Ganzen. Ohne diesen Geist würde die Welt einfach stagnieren und langsam in Fäulnis übergehen. Die gewisse Verblendung, die darin liegt, alles Übel im Außen, im Althergebrachten und bei den Anderen zu sehen, zusammen mit der aus dieser Sicht zwangsläufig entstehenden Wut, ergibt die nötige Kraft für gesellschaftliche Veränderungen. Wie anders sollte man die harten Gebäude des Bestehenden zum Bröckeln bringen, als mittels der festen Überzeugung, selber reinen Herzens auf der richtigen Seite zu stehen und die Macht des „Bösen“ zu bekämpfen?
Im Lauf der Jahre verschwindet dieses „reine Herz“, das sich der Tatsache verdankt, dass man noch nicht viel hinter sich hat, weder im Guten noch im Schlechten. Je mehr gelingt, was man sich ersehnt, umso mehr der Niemand, der man war, sich zum Jemand wandelt, dessen eigene Praxis die reine Theorie ersetzt, desto mehr gewinnt man persönliche Kontur. Die Leere wird zur Form, verstrickt sich in Widersprüche und wird zunehmend in Frage gestellt. Ab 35 ist jeder für sein Gesicht selber verantwortlich, heißt es zu Recht – vielleicht der wahre Grund, warum heute da mehr und mehr die Chirurgen ran müssen.
Mir wurde etwa Mitte dreißig klar, dass ich sterblich bin. Sicher, man „weiß“ das immer schon, auch als junger Mensch, doch ist es lange ein rein mentales Wissen, Buchwissen sozusagen. Ich kann mich noch genau erinnern, wie mir aufgefallen ist, dass sich etwas grundstürzend verändert hat. Bis zu einem bestimmten Augenblick hatte ich nämlich meine persönliche Geschichte und damit die Zeit ganz allgemein in Gedanken aufgerechnet, die mit „seit …“ begannen: Seit dem Abitur, seit dem Auszug von zu Hause, seit dem Umzug nach Berlin, seit dem Beginn meiner letzten Beziehung… – und auf einmal ertappte ich mich bei einem Denken „bis…“, ja, bis wohin?? Zur Rente? Zum statistischen Altersdurchschnitt rauchender Frauen? Ich konnte es nicht verlässlich „verdaten“, aber auf einmal war es DA, war in meinen alltäglichen (!) Gedanken angekommen: das Ende, mein ganz persönlicher Tod.
In der Krise, die sich in diesen Jahren verdichtete, verlor ich jeden Boden unter den Füßen, meine Welt wurde auf den Kopf gestellt und am Ende war ich eine andere geworden. Mein eigenes Ostern, könnte man sagen. (in anderen Beiträgen hab‘ ich darüber geschrieben, das wiederhole ich jetzt nicht). Seither schwingt mein Lebensgefühl – Glück, Zufriedenheit, Besorgnisse, Wünsche – rund um einen neuen Set-Point, der weit über allem liegt, was mir bis dahin zugänglich war. Und mit Yoga (gelobt sei mein lieber Lehrer Hans-Peter Hempel, ohne den das nicht geschehen wäre) konnte ich dieses gelassenere und entspanntere In-der-Welt-Sein sogar stabilisieren, beobachten und bewusster erleben.
Ach, immer wenn ich so ins Erzählen gerate, ist der Punkt der Lobreden schnell erreicht! Es gibt ja auch soviel Grund, das Leben zu preisen und dankbar zu sein – allein schon die Sonne, wie sie jeden Tag ein wenig länger scheint, die Blüten, die sich jetzt überall einfach so öffnen – und sogar ALDI-Tomaten (die kleinen!) haben auf einmal wieder einen wunderbaren Geschmack! Mein je aktueller Schreib-Impuls, der immer von einer Klage, einem Mangel, einer Kritik ausgeht, verliert sich vor der Fülle des Seins, wirkt auf einmal lächerlich und aufgesetzt: Navigationsprobleme im Freiraum? Leiden an der Abwesenheit „orientierender“ Ängste und Zwänge? – ich bin wohl nicht ganz dicht!
Und mit dieser befreienden Erkenntnis mach‘ ich für jetzt Schluss, MEHR ist von eigenen Texten kaum zu erwarten!
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