17 Menschen sind tot. Der Amoklauf eines 19-Jährigen, der Lehrer, Schüler und Polizisten des Gymnasiums niedermetzelte, aus dem er kürzlich verwiesen wurde, erschüttert die Republik. Fassungslosigkeit, Entsetzen, hilflose Fragen nach den Gründen. Wer ist schuld? Hätte man das verhindern können? „Er wollte immer auffallen“, sagt eine Mitschülerin. Ein Psychologe spricht vom Realitätsverlust des Täters, vom Tunnelblick, der keine Alternativen mehr zulasse als eben den Griff zur „Pump-Gun“. So jemanden dürfe man eben nicht alleine lassen, wenn man ihn von der Schule werfe.
Kulturkritische Reden werden jetzt wieder gerne geführt, gedruckt, gesendet: Der Werteverlust! Das hohle Leistungsdenken! Nur die Reichen und Schönen, nur Erfolgsmenschen und Medienstars gelten etwas in unserer Welt – kein Wunder, dass diejenigen schon mal ausrasten, die in der sich ausweitenden Kampfzone als Verlierer da stehen. Vom Bundespräsidenten bis zum Hinterbänkler wissen auf einmal alle: Der Wurm ist drin in unserer Gesellschaft, die nur noch dem Mammon huldigt, in der gegenseitige Hilfe, Achtung und Respekt allenfalls noch als Sonntagsreden-Marotte religiöser Würdenträger vorkommen. Habermas, wie recht du hast!
Ein paar Tage noch werden die Medien das Thema durchdeklinieren, dann wird es im Wahlkampf verschwinden: Wie kann Deutschland sich im internationalen Wettbewerb behaupten? Wie muss man das Bildungssystem umbauen, um die Schüler und Studenten in kürzester Zeit fit für den Weltmarkt zu machen? Die Betroffenen in Erfurt bekommen ihre psychosoziale Betreuung, für Großschäden durch Terroranschläge haftet seit heute der Staat, die „unausweichlichen Strukturveränderungen“ im sozialen Netz stehen auf der Tagesordnung, gleich nach der Wahl kommt der „Umbau“. Wir sind bereit für die Zukunft, da kann man nicht meckern.
Wie doch die Worte und Sätze locker dahin fließen! Auf der Ebene psychosozialer und politischer Verallgemeinerungen lassen sich Zeilen schinden ohne Ende, doch es befriedigt mich nicht. Das Klagen und Lästern über die „böse Welt“ ändert nicht nur nichts, sondern vermittelt auch immer den Eindruck, der Autor (und der ebenso entrüstete Leser) habe mit alledem nichts zu tun, sondern säße als unbeteiligter Beobachter auf einem Podest hoch über den Niederungen, in denen die Dummen und die Bösen das furchtbare Schauspiel dieser Welt zelebrieren.
Das Eintauchen in solches Schreiben und Lesen ist zwar entspannend. Man tröstet sich mit der Vorstellung, es besser zu wissen und erhaben zu sein – ganz ohne je darüber nachzudenken, inwiefern man selber Teil des Schreckens ist, der als „das Übel“ so angenehm auf Distanz gehalten wird. Und geht zur Tagesordnung über.
Mitmensch on Demand
Zum Beispiel Erziehung. Gewalt, so berichten Kundige in der Folge der Erfurter Schrecknisse, werde von den Jugendlichen heute öfter im Elternhaus erlebt als in der Schule – und weit häufiger als noch vor zwanzig Jahren. Gleichzeitig berichtet ein Radiosender von den Bemühungen des Gesundheitsministeriums, die um sich greifende Medikamentierung der Grundschulkinder zurück zu fahren. Bereits ein gutes Fünftel wird regelmäßig oder gelegentlich mit dem Beruhigungsmittel Ritalin sediert, das eigentlich nur für krankhaft hyperaktive Kinder entwickelt wurde.
Böse Eltern? Die einen sind so hilflos, dass sie schon mal zuschlagen, wenn der Nachwuchs nervt, die anderen benutzen die Errungenschaften der Pharmaindustrie, und wieder andere sind froh, die Kids in der Obhut zweifelhafter Medien sich selbst überlassen zu können: Videos, Computerspiele, vielleicht auch die pädagogisch wertvolle Hörkassette, Hauptsache, sie geben Ruhe!
Mir scheint, das Aufziehen von Kindern ist eine Sache, zu der heutige Individuen immer weniger in der Lage sind – aber ICH habe gerade kein Recht, mich über das Versagen von Eltern zu erregen, denn persönlich bin ich dem Thema Kind lieber gleich ganz aus dem Weg gegangen. Wer nichts macht, macht auch nichts falsch, da lässt sich’s locker kritisieren!
Besser, ich versuche, das Dilemma nachzufühlen: Was ist das Schreckliche an Kindern und Jugendlichen? Was ist der Kern der Überforderung? Immerhin begegne ich ihnen gelegentlich, erlebe Eltern im Umgang mit ihren Sprösslingen, spüre die Erschöpfung bei Freunden und Kollegen, wenn sie sich stundenlang liebevoll und engagiert den Bedürfnissen von 10-Jährigen fügen. Ich kann mich verabschieden, wenn es mir zuviel wird, sie nicht.
Was ist dieses „zuviel“? Es ist das rücksichtslose Eindringen in unsere Blase der Wahrnehmung. Kinder sind noch nicht so sehr „im eigenen Kopf versponnen“ wie der durchschnittliche Erwachsene, der gelernt hat, die Welt und ihre Anforderungen auf Distanz zu halten und sich den Dingen nach eigenem Plan zu widmen. Das Leben wird immer komplizierter, die Anforderungen an den Intellekt steigen. Ich muss jede Menge Informationen aufnehmen und wesentlich mehr Kontakte auf unterschiedlichsten Ebenen pflegen als es noch vor zwanzig Jahren möglich und üblich war. Der Siegeszug der E-Mail (und der SMS) spricht eine deutliche Sprache: Man brettert nicht mehr einfach so rein in ein anderes Leben, indem man jemanden anruft oder gar aufsucht. Nein, man schiebt seine Botschaft in einen elektronischen Speicher, in die Mailbox oder auf den Anrufbeantworter, damit der Andere nach eigenem Gutdünken darauf Zugriff nehme, wann immer es ihm passt. Mitmensch on demand, alles andere wird zur Überforderung.
Wir tragen Scheuklappen, die Jahr für Jahr dichter werden. Die Individualisierung, diese wunderbare Freiheit, Arbeit, Beziehungen, Wohnort, Werte und Bindungen weitgehend selber wählen zu können, verschärft die Lage noch, denn auf Gemeinsamkeiten aus Herkommen und Tradition, auf irgend welche Selbstverständlichkeiten kann niemand mehr zählen. Statt dessen müssen wir uns informieren (= in verwendbare Form bringen) und kommunizieren, taktieren, planen, verhandeln, Kompromisse schließen. Um überhaupt noch zusammen zu wirken, bedarf es des ständigen Stroms medialer Berieselung und jeder Menge technischer Interfaces, die ihrerseits hohe Anforderungen an die Lernfähigkeit mit sich bringen. Alles zusammen ergibt eine extrem einseitige Belastung des Intellekts, zwingt zur Rationalität, zum berechnenden Denken, das immer eine Zukunft plant und das „Jetzt“ nur als Mittel zum Zweck betrachtet. Gefühle sind dabei eher störend und der Körper wird – wenn überhaupt – mühevoll fit gehalten, damit er im üblichen Sitzleben nicht vorzeitig ausfällt.
Leben aus dem Tunnelblick: Ich nehme nur wahr, was mir nützt und was in meinen Plan passt. Anforderungen von außen sind Störfaktoren, die es zu bekämpfen gilt – gibt es überhaupt noch ein „außen“? In vielen Köpfen offensichtlich nicht. Der Status quo des Tunnelblick-Bewusstseins wird jedoch selber zum Störfaktor mit zunehmender Neigung zum Katastrophischen. Vor einer Berliner Grundschule ist gerade ein Spielgerät zusammengebrochen, einige Kinder brachen sich Arme und Beine: Es war eine Art Karussel auf einem Holzstamm, der im Sandboden steckte. Bei jedem Regen stand lange das Wasser um den Stamm, das hatten viele gesehen und konnten es in die Mikrophone erzählen. Aber nie war jemand auf die Idee gekommen, der Stamm könne durchfaulen, natürlich nicht, niemand hat Zeit, an so etwas zu denken. Und wenn doch, wäre man ja gewiss nicht zuständig!
Vor drei Wochen versuchte ich, in einer sozialen Einrichtung bei mir um die Ecke einen Raum für einen Abend pro Woche zu mieten – und zwar zu einem festen Starttermin. Die Angestellten waren freundlich, sagten zu allem „ja gerne“, hängten sogar meine Ankündigungsplakate auf, auf denen der Termin stand. Und sie sprachen davon, dass sie mir einen Schlüssel machen lassen würden, damit ich in die Räume komme – insgesamt vier Leute sprachen immer wieder davon, waren weiterhin freundlich, schoben sich das Vorhaben gegenseitig zu und verwiesen aufeinander – letztlich aber brachten sie es nicht zustande, auch zu tun, was sie sagten! Ich war nicht mal richtig sauer, so seltsam kamen sie mir vor: wie Zombis in einem Traum, zu denen man einfach nicht durchdringt, egal, wie laut man schreit.
Wieviele Menschen wohl in diesem Zombi-Tum ihr Leben verbringen? Wie oft bin ich selber so? Können uns bald nur noch Amok-Läufer, Selbstmordattentäter und Kamikaze-Piloten für ein paar Augenblicke aus dem täglichen Schlaf aufstören?
Ob dieser Text, in dem ich mir das Ganze für heute von der Seele schreibe, ein wenig wacher macht? Glaub‘ ich nicht, Worte werden maßlos überschätzt. Wir lernen allein durch die Folgen unserer Taten – im Moment tut mir zum Beispiel der Rücken vom langen Sitzen weh, besser, ich mach‘ jetzt Schluss und gehe ein bisschen im Zimmer umher.
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