Die Spannung steigt. Gestern den unterschriebenen Mietvertrag mit sieben Anlagen an den Makler geschickt und die Kaution für die neue Wohnung in Friedrichshain überwiesen. Jetzt muß noch die „Gegenseite“ unterschreiben, dann ist der Umzug „im Kasten“. Eigentlich dürfte nichts mehr dazwischen kommen, doch bin ich gewohnt, nicht auf Dinge zu vertrauen oder gar zu hoffen, die noch nicht ganz sicher sind. (Auch das ein Teil der selbst anerzogenen Verteidigungshaltung gegenüber der Welt: Nichts wünschen, nichts erhoffen, dann kann ich auch nicht enttäuscht werden).
In diesen ersten, endlich sommerlichen Tagen ist hier rund ums Schloß alles derart paradisisch, daß es fast weh tut. Die Bäume, die Vögel, die Blüten, das heftig wachsende Gras, alles scheint zu rufen: Bist du verrückt, hier wegzugehen? Dennoch ergreift mich keinerlei Melancholie, kein allgemeiner Abschiedsschmerz, keine Wehmut – außer beim Anblick der Katze! Wir können sie nicht mitmehmen, da es eine frei laufende Landkatze ist, die uns nur „besucht“, bei uns frißt, aber nicht in der Wohnung in ein Katzenklo scheißt. Nächtens schläft sie draußen, mal in ihrem Katzenhäuschen unter dem nächsten Baum, mal beim Nachbarn im Schuppen.
Im tiefsten Winter ist sie uns zugelaufen, völlig verdreckt, abgemagert bis auf die Knochen, gottserbärmlich stinkend, da sie sich nicht putzte, und mit Spuren von allerlei Verletzungen. Völlig fertig lag sie in der Küche auf dem Sessel, sie hatte einen Quellbauch wie ein Hungerkind aus der dritten Welt, zuerst glaubten wir, sie sei schwanger. Weit gefehlt, im Lauf einiger Wochen guter Fütterung erholte sie sich, der Bauch verschwand, sie begann, sich zu putzen, und wurde ein ganz normales wolliges Kätzchen, sogar äußerst anhänglich. Man kann mit ihr spazieren gehen, sie folgt auf Schritt und Tritt.
Nun ist sie ganz auf uns fixiert, verbringt einen großen Teil des Tages in der sicheren und gemütlichen Zivilisation unserer Wohnung oder räkelt sich draußen auf der Wiese, in Sichtweite des Küchenfensters. Wir haben zweimal versucht, sie zur Hauskatze zu machen, um sie nach Berlin mitnehmen zu können – also nicht raus gelassen, ein Katzenklo hingestellt und sie immer mal ‚reingesetzt. Erfolglos! Wenn sie muss, dann will sie raus – und nicht nur das, sie will auch raus, wenn ihre wilde Zeit beginnt und der Wald ruft. Die Sache mit dem Klo hätte ich ja noch öfter probiert, aber diese innere Wildheit, die bei frei laufenden Katzen viel deutlicher zu spüren ist als bei Hauskatzen, die kein „draussen“ kennen, werde ich ihr niemals abgewöhnen können (und auch nicht wollen, es ist ein Teil ihres Wesens). Darüber hinweg zu sehen und sie dauerhaft in eine Wohnung einzusperren, wäre vielleicht schlimmer als der Tod, der ihr hier im übelsten Fall droht (Hunde, Hunger…). Und was sie mit der Wohnung machen würde, mag ich mir gar nicht ausmalen – für beide Seiten wäre es jedenfalls eine Katastrophe!
Weil sie also an den Raum und nicht etwa an Personen gebunden ist, können wir sie nicht einfach an jemanden vermitteln, nicht mal ins Tierheim geben. Müssen darauf hoffen, dass der Nachmieter sich ihrer annehmen wird, ihr den gewohnten „sicheren Stützpunkt“ bieten, den sie für ihr Hier-Sein braucht, in dieser feindlichen Welt mit gefährlichen Hunden, für die sie draußen ein gern gesehenes Jagdwild ist. Auch ein feindlicher Kater macht ihr das Leben schwer – sie ist nämlich gar keine SIE, sondern ein sehr kätzisch wirkender zierlicher Kater (hab‘ ich auch erst erfahren, als ich sie sterilisieren lassen wollte und der Tierarzt mich nach erfolgter Kastration aufgeklärt hat).
Wenn ich sie jetzt so erlebe in ihrer herzergreifenden Anhänglichkeit, ist es ein richtiger Schmerz, mich von ihr zu trennen, schlimmer noch, sie in eine ungewisse Zukunft zu entlassen. Auch fühle ich mich verantwortlich, weil ich schließlich ihren teilweisen Einzug bei uns im Winter tatkräftig voran getrieben habe. Vielleicht wäre sie ohne diese Unterstützung gar nicht mehr am Leben – entsteht daraus nicht die Pflicht, nun für ihr ganzes Leben zu sorgen?
So etwas ist „unlösbar“ – unlösbar in dem Sinne, dass es keine Variante gibt, die ohne Leiden ist. Das Leiden ist die Rückseite der Freude, des liebevollen Gefühls, des Sich-Einlassens auf ein anderes Wesen, sei es Mensch, Tier oder sogar Pflanze. Sowas erlebt man ein paar Mal und wird dann vorsichtig, vermeidet Verstrickungen, hält sich zurück. Verzichtet womöglich auf alle gelebte Liebe, nur um diesen Schmerz nicht mehr erfahren zu müssen. So eine Haltung ist intellektuell und spirituell locker zu rechtfertigen: „Hasse nicht, liebe nicht, dann ist es klar und eindeutig“ (aus der „Meißelschrift vom Glauben an den Geist“. Mit ‚es“ ist die ‚wahre Wirklichkeit‘ gemeint). Logisch und gänzlich unerleuchtet interpretiert könnte das heißen: Woran ich nicht hänge, das kann mir gestohlen bleiben… Aber ist es das, was ich will? Herzlos-gleichmütiges Funktionieren? Ist es das, wonach die Welt sich sehnt? (Ganz gewiß ist das auch ein Mißbrauch der Meißelschrift).
Die Katze ist derzeit meine Lehrmeisterin in Sachen Herzeleid. Ich tue nichts mehr dagegen, sondern spüre beide Seiten, die Liebe und den Schmerz. Und ich sehe, wie sich immer wieder Gedanken vor das Erleben stellen wollen, verständige Problemlösungsbemühungen, die an der Lage nichts ändern, jedoch automatisch ablaufen, immer wiederkehren, bereits verworfene Vorschläge zum Wiederkäuen anbieten, endlos um sich selbst kreisen. Eine Programmierung im Grunde, die meine ‚Arbeitsspeicher‘ belegt, weil ich mich lange Zeit lieber als eine aktive Problem-Löserin oder zumindest intensiv nach Lösungen Suchende erleben wollte, und nie, nie, nie mehr als passiv Leidende! (die aber am Leiden letztlich auch mit all ihren Aktivitäten nichts ändern kann).
Liebe nicht, hasse nicht, dann ist alles klar – das kann auch meinen: Greife nach nichts und lehne nichts ab, erlebe, was ist! Auch den Schmerz, die Freude – ein Kommen und Gehen.
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