„Zwei Wochen weg von allem, das kann ich mir gar nicht mehr vorstellen!“ Ich sage es so dahin, als sie mir von ihrem Urlaub auf Gomera erzählt, höre mich diesen so selbstverständlich klingenden Satz sagen und wundere mich. Was ist dieses „alles“, von dem ich nicht weg will, das mich hält, fasziniert, mir das Gefühl gibt, „am Ball“ zu sein? Zwei ganze Wochen nur Sonne, Meer, Wind, Natur – wär‘ das denn nicht wunderbar? Im Geiste bin ich dort, sehe mich barfuß am Strand, sehe mich über Felsen klettern, den herben Duft südlicher Gewächse atmen, den weiten Blick genießen, der ein Gefühl von Zeitlosigkeit vermittelt: vor einer Million Jahre sah es auch schon nicht anders aus, ewig brechen sich die Wellen, wirbeln Gischt auf, verlaufen und versickern auf dem Sand – was ist Zeit?
„Ich würde in ein Internet-Café gehen“, sag ich zu ihr, bin im Geiste am Ende meiner Wanderung angekommen, hab‘ im Hotel geduscht, das Salz von der Haut gewaschen, mir frische Sachen angezogen und fühle Tatendrang. „Da war ich,“ sagt sie, „zehn Minuten kosten drei Euro. Es ist unglaublich teuer!“.
Der Flug, so hat sie mir erzählt, kostet fast nichts. Ich fliege nicht, also bekomme ich die allgemeine Entwicklung der Flugpreise hin zum Taxi-Tarif nur am Rande mit. Was ich nicht benutze, bedeutet mir nichts, selbst wenn es kostenlos ist. Aber wieder wundere ich mich: Die physische Bewegung durch weite Räume wird immer billiger, und doch zieht es mich überhaupt nicht weg! Das Gefühl, anderswo sein zu wollen, kenne ich kaum noch, erinnere mich nur dunkel, dass es früher immer wieder mal aufkam – doch eigentlich nicht als Verlangen nach Erholung, es war pure Unzufriedenheit mit dem, was gerade ist. Langeweile, Sehnsucht nach Abwechslung, nach neuen, ganz anderen Erfahrungen, nach einem Bruch der Routinen und Gewohnheiten, in denen mein Alltag kreiste.
Lob der Routine
Auch jetzt kenne ich Routinen, doch anders als früher schätze und pflege ich sie. Jeden Sonntag besuche ich M., meinen Ex-Lebensgefährten. Wir gehen spazieren, er kocht, wir essen und plaudern, setzen uns dann vor die Glotze: Lindenstraße, Weltspiegel, Tagesschau, Tatort, Sabine Christiansen – jeden Sonntag dasselbe, ich kann mich richtig aufregen, wenn irgend ein blödes Sportereignis die Gewohnheit durchbricht. Andere Routinen sind nicht so leicht zu haben, ich muss regelrecht um sie kämpfen: zum Beispiel die Mittagspause. Immer noch ist die mal um zwölf, mal erst um zwei. Manchmal koch‘ ich mir was, meistens tun es ein paar Brote, beim Essen lese ich die Tageszeitung, genieße das provinzielle Wir-Gefühl, das aus dem Lokalteil der Berliner Zeitung dräut, genieße auch, dass mir nicht mehr das geringste schlechte Gewissen den Appetit verdirbt, verstoße ich doch regelmäßig gegen das spirituell korrekte „Wenn ich esse, dann esse ich“. Ha! Wenn ich esse, esse ich nicht nur, sondern lese auch Berliner Zeitung! So what?
Routinen und Gewohnheiten lassen sich erst dann in ihrer wohltuenden Wirkung richtig schätzen, wenn es die eigenen sind. Solange ich noch danach strebte, in all meinem Tun und Denken irgendwelchen Idealen nahe zu kommen, höchsten Werten zu genügen, wunderbaren Utopien am eigenen Leib zum Durchbruch zu verhelfen – solange war mir im Grunde alles mühsam, sperrig, widersprüchlich bis hin zum Stress. So entstandene Routinen sind dann nur einzwängende Schubladen, in die man sich selber gesteckt hat, um die Weltrettung oder die ganz persönliche Gesundung voran zu treiben. Alles andere als nachhaltig, immer prekär, immer in Gefahr, plötzlich in irgend einen Exzess zu explodieren, in dem sich das Verdrängte, nicht gelebte zum Ausdruck bringt, dabei alle Gewohnheit und Routine, aber auch Wachheit und Wohlbefinden in den Abgrund reißend.
Vorbei. Keine Lust auf Urlaub, keine Neigung zu Exzessen, keine Sehnsucht nach dem ganz Anderen – was sollte das auch sein? Ich wüsste nicht, von was ich mich noch befreien sollte, und es gibt auch nichts, was ich unbedingt HABEN muss. Manchmal, in psychophysisch bedingt schlechten Momenten, deren Entstehen ich meist sehr gut herleiten kann, ist da ein Erschrecken vor der Leere: Und jetzt? Was soll ich denn nun machen? Wenn mir nichts fehlt, wonach soll ich streben? Wo bitte ist der Kick? In solchen Augenblicken sind Routinen wunderbar, bieten sie doch die Möglichkeit, sich von derart nutzlosen Gedanken einfach abzuwenden. Nicht abzulenken, sondern bewusst abzuwenden. Tomaten klein schneiden, Salz, Pfeffer, Olivenöl, beiläufig die Krümel auf dem Kühlschrank und die Reste der übergelaufenen Milch auf dem Herd wegputzen – locker lässt sich so ein philosophisch daher kommendes, mentales Tief umschiffen, das vielleicht vom zu späten Essen am Vorabend rührt, oder einfach im allgemeinen Beharrungsvermögen der Psyche gründet, die ihrerseits gern alte Gewohnheiten festhält.
Speziell die Gewohnheit, aus einem vermeintlichen Mangel heraus zu denken, zu fühlen und zu handeln, ist nicht ganz einfach abzulegen. Selbst dann nicht, wenn klar ist, dass das „Konzept des Mangels“ ein Konstrukt ist, keine Wirklichkeit. Die spezifische Verengung des Bewusstseins, die auftritt, wenn etwas Erwartetes nicht „wie erwartet“ geschieht, lässt regelmäßig vergessen, dass erst die Erwartung das Mangelgefühl erzeugt, an dem dann gelitten wird. Wünsche, die einfach „ein-fallen“, sind so ungesund wie leerer Zucker und Weißmehl, denn sie vernebeln den Geist, der nicht mehr wirklich hinsieht, was geschieht. Ihnen aufzusitzen heißt, nach einer selbst erdachten Konkretisierung zu streben, Scheuklappen aufzusetzen und das ganz Bestimmte zu suchen, das scheinbar einzig und allein jetzt den Mangel zu beheben vermag – eine leidbringende Illusion!
Aber…
Himmel noch mal, wenn ich mich jetzt so lese, fällt mir auf, dass ich ungefähr dieselben Gedanken schon vor zwanzig, dreißig Jahren in allerlei erbaulichen Büchern fand. Sie stapelten sich bei mir, ich las immer gleich mehrere auf einmal, schwankend zwischen einem heftigen, aber nicht konkretisierbaren Verlangen nach etwas „ganz Anderem“, und dem Trotz und Ärger, den solche Reden in mir hervor riefen. Wollten die mir meine Wünsche ausreden? Meine unzähligen Wünsche nach Nähe und Zärtlichkeit, nach Anerkennung, Bewegungsfreiheit, Resonanz, nach nützlichem Tun, nach Frieden, Freude und Sinn? SO zumindest formuliere ich HEUTE diese Wünsche – damals waren sie sehr viel konkreter: DIESER Mann, und sonst keiner, Urlaub nur dort, wo Pinien stehen, Wohnen in Gemeinschaft, aber nur mit diesem und jener, sinnvolle Arbeit, aber bitte ohne Anstrengung und „Druck-Termin“, Jeans, aber nur von Levis – und Geld, nicht viel, aber so eine Art Grundeinkommen, zu überweisen vom Staat, den ich ansonsten abschaffen wollte.
Es lag nicht in meiner Macht, zu wählen, wie ich auf die Hinweise in den Büchern reagieren wollte. Zeitweise bemühte ich mich allen Ernstes, von eigenen Wünschen Abstand zu nehmen – zum Glück immer nur kurz, denn dies ist ein Irrweg, der nur Zeit verschwendet. In der Regel folgte ich meinem Verlangen und versuchte, all das zu bekommen, worauf es sich gerade richtete. Letztlich ließ ich mir dabei von niemandem reinreden, nicht wirklich, allenfalls formulierte ich die Begründungen für meine Bedürftigkeiten ein bisschen passender, passend zum Gedankengebäude, dem ich gerade huldigte. Kein Buch, keine Autorität und nicht mal ein geliebter Mann konnten mich jemals davon abbringen nach dem zu streben, was mir aktuell als „das Glück“ erschien, gaukelnd am fernen Horizont wie eine verheißungsvolle Fata Morgana.
Und immer wieder hatte ich Erfolg, bekam, was ich mir wünschte, erreichte meine Ziele, verwirklichte meine Vorstellungen von einem „besseren Leben“. Lebte in Gemeinschaft mit Freunden, bekam die Männer, die ich wollte, hatte meine Überweisung vom Staat, arbeitete selbstbestimmt an der Verbesserung der Welt im Kreuzberg der 80ger-Jahre, bekam jede Menge Anerkennung – und es ging immer so weiter, in neuen Varianten, auf anderen Ebenen, immer dieses Streben nach etwas…, ja WAS eigentlich? Jedes Mal, wenn ich ein Ziel erreichte, wenn ein Wunsch sich erfüllte, fühlte ich die Leere. Das, was mich in Bewegung versetzt hatte, dieses innere Brennen, wurde durch den Erfolg, das Erringen, die Ziel-Erreichung in keiner Weise beantwortet. Ja, ich sehnte mich schon gleich zurück nach einem neuen Streben, das sich auch schnell einstellte: der Verstand findet jederzeit unzählige Mängel, die es noch abzustellen gilt.
Aber steter Tropfen höhlt den Stein. Irgendwann begreift auch die hartnäckigste Psyche, dass sie in einem Laufrad strampelt, und immer nur im Kreis. Es kommt nicht wie eine Erkenntnis, als ein „Aha-Erlebnis“, sondern schleicht sich langsam, fast unmerklich ins Leben wie das „Fading Out“ der Farben bunter Kleider, die durch vieles Waschen langsam ausbleichen.
Nun sitz ich auf der Erde neben dem still stehenden Laufrad. Alles ist gut, alles ist da. Ich sehe die Fülle, die mich umgibt und die neuerdings sogar dazu neigt, mich mit allerlei schönen Dingen zu überschütten, für die ich nicht erst strampeln muss. Gewöhnungsbedürftig ist es, zu bemerken, dass auf einmal andere Menschen ihre Sehnsucht nach dem „ganz Anderen“ auf mich richten – aber verdammt noch mal, ich bin es nicht!!!! Bin allenfalls wie ein Kapitel in dem Buch, das nur der versteht, der es eigentlich nicht mehr lesen braucht. Aber ich lass mich nicht zuhause stapeln.
Zeit zum Schreiben
Es ist fast Mittag. Wenn ich einen Diary-Beitrag schreibe, meist ohne vorher zu wissen, über was, lasse ich alles Andere warten, rufe keine Mail ab, hoffe, das Telefon möge nicht läuten und mich aus dem Schreibfluss reißen. Wenn der Fluss an sein Ende kommt, egal ob das Thema „abgehandelt“ ist oder nicht, stelle ich das Geschriebene ins Netz, korrigiere noch mal Fehler, füge Zwischenüberschriften ein und wende mich dann den 10.000 Dingen zu, die auf mich warten. Es ist spannend, E-Mail nicht gleich morgens um acht abzurufen, sondern erst um elf! Da können dann so richtige Hämmer dabei sein, die „immediately Action“ verlangen, womöglich gleich mehrere auf einmal. Die arbeite ich dann in ausgesprochen guter Stimmung ab, fühl mich nicht gehetzt, empfinde weder Stress noch ein schlechtes Gewissen – und letztlich geht alles viel schneller und effektiver ab, als wenn ich schon in der Frühe angefangen hätte. So ist mir das Schreiben fast wie ein Gang ins Fitness-Center, nur auf einer anderen Ebene: Zeit wird nicht verloren, sondern gewonnen. Und noch manches mehr.
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