Seit einer knappen Woche lebe ich wieder allein – nach etwa zwölf Jahren Zweisamkeit! Nur noch ein paar wenige große Möbel meines liebsten Freundes stehen im Nebenzimmer, am Montag früh ist der Abtransport. Er hat eine Wohnung in Kreuzberg gefunden, ich bleibe in Friedrichshain, ziehe aber ein paar hundert Meter weiter: rüber über die S-Bahn-Geleise, näher an die Spree, direkt neben die Oberbaumcity. Alles verläuft ganz organisch, es geschieht, was geschehen muss und wir sind es beide zufrieden. Eine gute Erfahrung, daß nicht jede wichtige Veränderung unter Hauen & Stechen stattfinden muss.
Beim Verein der Freunde alter Menschen bin ich im November ausgestiegen: für ein paar wenige alte Menschen Kaffeenachmittage zu organisieren ändert nichts an der Situation in den Alten- und Pflegeheimen, auch nicht an der Isolation der Unzähligen die noch in ihren Wohnungen schlecht und recht versorgt werden. Und JA, ich will wieder etwas ändern, wenn ich mich schon engagiere, nicht nur einfach „irgendwas in dem Bereich“ machen und sehen, wie es mir bekommt.
Türen schlagend verließ ich kurz vor Weihnachten auch meinen langjährigen Yoga-Lehrer. Über die verschiedenen Anlässe will ich mich hier nicht verbreiten. Ich verdanke ihm viel und werde das nicht vergessen! Der Zeitpunkt war allerdings länger schon überschritten, an dem ich hätte gehen sollen: der ist immer dann, wenn ich nur noch das „Immerselbe“ erlebe und bereits mehrfach auf alle mir möglichen Weisen reagiert oder eben nicht reagiert habe. Da zu bleiben und das Bekannte endlos weiter zu „konsumieren“ ist dann kontraproduktiv, denn die Punkte, an denen es weiter gehen muss, sind durch diese Konstellation blockiert: bei ihm und durch ihn geht nichts mehr – aber auch nicht mit Hilfe eines Anderen, denn ER ist ja da! Und er macht natürlich SEINS, seinen Yoga, sein Leben, seine Philosophie und seine Weltanschauung – wenn ich wichtige Teile davon ablehne, aber trotzdem dran bleibe, ergibt das nur einfach zunehmende Ärgerlichkeit im zwangsläufigen Stillstand.
Gut, dass es jetzt zu Ende ist, zehn Jahre sind vermutlich auch genug. Mit ihm zu streiten wäre müßig. Ganz abgesehen von der Frage, ob er Kritik und Auseinandersetzung auch einmal zulassen würde, bin ich ja nicht gekommen, um IHN, den zwanzig Jahre Älteren zu ändern, sondern um MICH mit seiner Hilfe ändern zu lassen. Wenn allerdings in mir keinerlei Verlangen mehr brennt, in dieser oder jener Hinsicht zu werden wie er, dann läuft da nichts mehr. Lange schon nicht!
Form wird Leere, Leere wird Form
Es gab auch noch ein paar weniger bedeutende Trennungen in letzter Zeit, die alle ein Grundmotiv gemeinsam haben: die Phase, in der ich nur beobachtetete, wie die Außenwelt mich formt, in der ich immer nur übte, möglichst ohne Widerstand ein Maximum an innerer Flexibilität zu realisieren, ist vorbei. Lange lebte ich aus der Mitte dreissig gewonnenen, damals ungeheuer befreienden Einsicht: Ich bin niemand, also bin ich (potenziell) alles. Kann daher zu allem JA sagen, denn nichts stellt mich in Frage. Weil da ja kein substanzielles Ich existiert , weil „ich“ nur eine Denkweise ist, definiert mich auch nichts außer mir selbst – ich kann es also gleich ganz lassen und einfach nur Beobachterin sein. Beobachterin auch eigener Gedanken, Gefühle und Aktionen, die einfach stattfinden weil ein Tag dem anderen folgt und immer irgend etwas geschieht.
Demut, Hingabe, Gelassenheit – diese Haltungen kamen in meinem ersten Lebensentwurf nicht vor: der zeigte mich als Macherin meiner Welt, als stets Betroffene und Verantwortliche, die mit vollem Einsatz kämpft und um Macht und Einfluß ringt; natürlich immer für die Menschheit und die Weltrettung und niemals für sich selbst – zumindest in der Selbsteinschätzung, also in fast völliger Blindheit.
Als diese Art des In-der-Welt-Seins dann auf selbstzerstörerische Weise zum Ende kam und vor nun fast dreizehn Jahren endlich zusammen brach, bewegte es mich wie in einer Pendelbewegung hin zum anderen Ende er Dualität: Nicht ICH mache, sondern ich werde gemacht – alles geschieht immer schon ganz ohne dass ich die Welt auf meinen Schultern trage. Etwas Konkretes wollen, etwas Bestimmtes meinen, ja, alles Meinen und Diskutieren, Argumentieren und Grübeln – all das sind nur Formen der Unfreiheit und Selbstfesselung. Nur nie mehr versuchen, eine Form zu verteidigen!
Ich kann kaum schildern, was das für eine Umwertung alle Werte bedeutete – und was für ein spektakulär anderes Lebensgefühl. Es war eine Art zweite Geburt. In der ersten Zeit schwebte ich denn auch wie auf Wolken, und auch später ging es mir durchgehend besser als je zuvor: anstrengungslos ergriff ich Möglichkeiten, die sich mir anboten. Menschen wollten etwas von mir, also tat ich das – das Leben wurde ungeheuer einfach und erstaunlicherweise lebte ich in jeder Hinsicht besser, auch was Arbeit und Einkommen angeht. Offensichtlich war ich in meiner Macher-Phase selbst der Urgrund all meines Unglücks und meiner Verzweiflungen gewesen.
Die „Entdeckung der Gelassenheit“ war allerdings nicht das Ende, wie ich heute merke. Das Pendel hält nicht etwa an, sondern schwingt weiter von einem Pol zum andern – vermutlich werden nur die Ausschläge kürzer und ein Leben ist (im niemals real existierenden Idealfall) dann vollendet, wenn es in der Mitte zur Ruhe kommt.
Weit entfernt von dieser mittigen Ruhe erlebe ich derzeit wieder den Richtungswechsel: von der Leere zur Form, vom Nichts zum Alles, vom Loslassen zum Zupacken, vom Forschen und Beobachten zum Erschaffen und Pflegen. Es fühlt sich an wie eine Häutung, alles Erleben ändert seinen Geschmack, alle Wahrnehmung ist anders, eben noch in einer alten Routine steckend merke ich ständig: hey, auch DAS ist ja nicht mehr so, wie gehabt! Auch hier ist etwas neu und ich muss es mir genauer ansehen, muss einen neuen Umgang damit finden.
Aus der Wüste zu den Sternen
Wie ist das gekommen? Was hat sich verändert? Der Umschlag hat sich schon lange Zeit angebahnt, so seh ich das zumindest jetzt. Einige Jahre fühlte ich mich schon wie in einer Art Wüste: keine Wünsche mehr, keine wirklich ernst gemeinten Projekte, keine Gedanken an Zukunft (weil die sowieso nicht existiert..) – und der verrückte Versuch, immer mehr zum Nichts zu werden, eine Art Nullstelle im Dasein, allenfalls ein paar vielleicht hilfreiche Beobachtungen absondernd, die aufgrund eigener Interesselosigkeit einen ganz besonderen Anspruch auf Wahrheit anzumelden hätten – wie absurd! Was für eine Selbtvergewaltigung!
Während mein Yogalehrer sein Buch über „Daseinsgefräßigkeit“ vorbereitete, verging mir so langsam aller Appetit aufs Leben. Und im Zusammenwohnen in einer um jeden Preis friedlichen Zweisamkeit scheiterte ich zeitgleich mit dem Bemühen, als Form, als Jemand, an dem der Andere anecken, sich irgendwie stören könnte, zu verschwinden. Mich immer weiter zurücknehmend konnte ich es locker bis zur konturlosen grauen Maus bringen, die in einem unauffälligen Loch sitzt und den Kopf einzieht, um nur nicht Stein irgend eines Anstoßes zu sein – nichts wollend, nichts meinend, nichts wünschend – und doch alles zwecklos! Der Andere stößt sich trotzdem, das kann gar nicht anders sein, wenn man sich so nahe ist.
Das eigene Verschwinden ist nun aber nicht wirklich machbar, selbst der Symbolisierung und Virtualisierung in einem Online-Leben sind natürliche Grenzen gesetzt. Wenn also die eigentlich „beziehungstypischen“ Auseinandersetzungen vermieden werden sollen, bleibt als einzige Möglichkeit, die alltägliche Zweisamkeit zu beenden und eine größere Distanz einzunehmen. (….jetzt freu ich mich schon wieder, wenn er zum Kaffee kommt!)
Seit dies beschlossen ist, also seit ein paar Monaten, zerbröckeln eine ganze Menge innere Mauern, die ich offensichtlich gegen Veränderungen errichtet hatte. Es ist machbar, ja sogar leicht, etwas Wesentliches zu verändern: Anstatt zugunsten Anderer wegzuschrumpfen, kann ich mir auch einfach mehr Raum nehmen. Ja, irgendwann bleibt einfach nichts anderes mehr übrig, selbst wenn ich „eigentlich“ nichts derartiges vorhatte, ja, sogar ängstlich davor zurück schreckte..
Es macht einen wichtigen Unterschied, dies an sich selber erneut zu erleben, anstatt es nur zu wissen bzw. zu erinnern. Wie Dominosteine purzelt nun alles in eine andere, eine neue Richtung: wenn ich an diesem allerwichtigsten Punkt meines Lebens nicht anders kann, als SO zu entscheiden, dann ist nicht mehr einzusehen, warum ich mich in weniger wichtigen Bereichen weiter um die eigene „Nichtung“ mühen sollte!
Als wäre die Sehne eines Bogens überspannt worden und letztlich gerissen, drehe ich mich um 180 Grad, schwinge mit dem Pendel wieder in die andere Richtung und fühle voller Freude: Ich bin völlig ok, meine individuelle „Form“ ist gut so! Sollen doch diejenigen, die immer gerne an mir herumkritisieren, erstmal dahin kommen, sich mit sich selbst so wohl zu fühlen wie ich. Mein Atem ist mir lang genug, warum zum Teufel soll ich ihn eigentlich NOCH weiter verlängern??? Wenn nicht gerade jemand an mir zieht und mir vermittelt, ich sei irgendwie falsch, geht’s mir super! Sogar unabhängig vom Stand des Bankkontos, vom Wetter und von kleinen Zipperlein wie Mausarm, Tietzesyndrom und Probleme mit dem Nerv aus L5/L6 ! Richtig krank bin ich nie, meistens sogar gut gelaunt, in meinem Kopf geben sich weder Ängste und Bedenken die Klinke in die Hand, noch füllen Klage und Anklage über Selbst und Welt alle Speicher, die doch für das Wunder der Wahrnehmung und ein freudvolles schöpferisches Handeln in der – tatsächlich verbesserungsbedürftigen! – Welt weit besser genutzt werden können.
Und das will ich nun auch tun. Es geht mir nicht darum, irgend eine Wahrheit zu demonstrieren oder gar zu verteidigen. Wesentlich wichtiger ist das Gefühl der inneren Ruhe und Klarheit, dieses Ganz-bei-sich-Sein, egal, was da für Turbulenzen im Äußeren toben mögen. Das Pendeln zwischen den Polen der Dualität – zwischen Form und Leere, Wille und Hingabe, zwischen Zeitlichkeit und ewigem Augenblick – ist die Bewegung des Lebens. Auf immer neuen Ebenen erlebe ich sie, vielleicht lerne ich ja doch, einfach freudig mit zu tanzen.
Dass im Scheitel des Pendels, im „Auge des Orkans“, absolute Stille herrscht, hat damit überhaupt nichts zu tun.
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