Claudia am 24. Januar 2003 —

Noch hier – schon dort – im Nirgendwo

Das Zimmer ist nun fast ganz leer, alles ist abgebaut und steht zum Transport bereit. Diesen Text tippe ich nicht mehr am großen Schreibtisch auf dem bequemen Bürostuhl, sondern an einem kleinen runden Holztischchen, das gerade genug Platz für Monitor, Tastatur und Maus bietet. Nachher werde ich ein letztes Mal ins Netz gehen, nach Mail gucken und diesen Beitrag ins Diary stellen, bevor ich alles ausstöpsele und verpacke.

Rudolfplatz

Heut war ein anstrengender Tag, aber er hat mir trotzdem sehr gefallen. Ich war schon um halb neun in der neuen Wohnung, ging dort durch die Räume, die noch wunderbar leer waren, überlegte, wohin ich dies und jenes stellen werde, ging immer wieder zu den Fenstern, um die Aussicht zu genießen. Endlich mal mehr als nur die Hauswand gegenüber – nämlich der Rudolfplatz: ein bißchen Grünanlage, Wiese, Bänke, Gebüsch, ein großer Kinderspielplatz, daneben Kirche (außer Betrieb) und Schule – und gegenüber das Offene, Unbestimmte, Weite… es entzückt mich! Das ist das Erbe von Mecklenburg, ganz bestimmt. Früher hab ich mich für Ausblicke nämlich nicht interessiert. Meine erste berliner Wohnung (ab 1979) lag im Hinterhaus, einhalb Zimmer, Küche, Ofenheizung, Außentoilette – und man schaute auf eine fensterlose Brandwand, nur etwa drei Meter entfernt. Die billige Bleibe hatte ich von dem Regisseur Rudolph Thomè übernommen, der sich später an sie erinnerte und mich bat, für drei Wochen auszuziehen. Ich bekam 1000 Mark und das Filmteam die Wohnung, wo sie einige Szenen für „Berlin Chamissoplatz“ drehten. An der Mauer gegenüber stand dann rot hingesprüht: „Anna, ich liebe dich!“, und meine Wohnung war frisch gestrichen.

Es war ein langer Tag mit viel körperlicher Arbeit: geschleppt, gepackt, geputzt, herumgefahren, Auto einladen, Auto ausladen, runter vom zweiten, rauf in den dritten Stock – viele Male viele Treppen steigen. Das Denken ändert sich dabei, stelle ich fest. Ich plaudere einfach so daher, komme von diesem zu jenem, es hat weniger Schwere, weniger Reiz, weniger Wichtigkeit – ich kann ihm Raum geben und es plappert los, aber es ist angenehm zu wissen, dass es auch wieder aufhört, weil noch viel zu tun ist, morgen, übermorgen – ganz konkrete, anfaßbare Dinge, ausräumen, einräumen, Möbel herumschieben, einkaufen, basteln, ausmessen, Lampen aufhängen, die Küche streichen – das ist so vergleichsweise ruhig, ich kann es schlecht in Worte fassen, aber jetzt verstehe ich besser, warum Kontemplative und Mystiker aller Zeiten einen Hang zu einfachen körperlichen Arbeiten hatten. Das „Übertriebene“ des Denkens verschwindet, man fühlt sich im EINKLANG, wenn man zu dem, was körperlich gerade passiert, den passenden Gedanken hegt: Stelle ich den Herd mehr rechts, oder verschiebe ich ihn eher nach links? Und wenn solche Fragen nicht auftauchen, ist es wundervoll, einfach die Empfindungen zu beobachten. Ja, so ein kleiner Urlaub vom Sitzleben durch das Umziehen ist schon toll!

Mittags dann im T-Punkt: WARUM ist das Telefon noch nicht geschaltet? Das sollte doch am 23. in der neuen Wohnung schon funktionieren! „Tja,“ sagt die Dame und blickt bedauernd in ihren Monitor, „das hat leider nicht geklappt! Aber am 28. ist die Schaltung dann ganz sicher, der Termin steht!“. Sie will nicht, dass ich auch in den Monitor gucke, was für mich erstmal ganz selbstverständlich ist, wenn ich mit ihr zusammen an einem runden Stehtisch stehe, also kein Schreibtisch den Raum in „davor“ und „dahinter“ einteilt. Was sie wohl fürchtet? Dass ich ihrem Arbeits-Interface was weggucke??? Oder erscheinen vielleicht peinliche Meldungen wie „Kunde ist Nörgler und beschwert sich bis zum Vorstandsvorsitzenden“, die sie vor mir verstecken muß? Ich jedenfalls war immer brav, nur die Telekom hat niemals funktioniert, wie versprochen, wenn ich etwas brauchte. Wirklich nicht ein einziges Mal.

Rudolfplatz

Wunderbar geklappt hat heut morgen die Lieferung des Gasherds. Oh, wie hatte ich mir Sorgen gemacht, dass es nicht der richtige Anschluß sein könnte, dass der Schlauch vom Herd genau verkehrt herum sitzt, dass er womöglich nicht funktioniert oder man irgendwo etwas anwerfen muss und ich hab keine Schlüssel – eine Gasetagenheizung hatte ich ja noch nie und was das Kochen angeht, so liegen Jahrzehnte mit E-Herden hinter mir. Zum Glück waren die Sorgen umsonst, es lief alles ganz easy, die beiden gewichtigen Packer hatten sogar gute Laune, wir witzelten herum – ein netter Einstieg in den Tag.

Kaum waren sie weg, kam *Dirk, mein alter Freund aus der Netzliteratur-Szene, der neulich am Telefon unaufgefordert seine Umzugshilfe angeboten hatte. Fand ich klasse – immerhin sind wir aus dem Alter raus, wo man aus Umzügen versucht, eine Art Fest zu machen, viele Leute zusammen trommelt (von denen 80 Prozent auch wirklich kommen), gemeinsam ein paar Stunden schuftet und dann ins große Fressen & Trinken übergeht. Nein, Menschen meiner Altersklasse lassen üblicherweise umziehen, wir schleppen nicht mehr so gern selbst und viele haben auch soviel angesammelt, dass es freiwillige Helfer überfordern würde. Nun, die letzten beiden Male hab ich das auch so gehalten, der lange Weg nach Mecklenburg schreckte mich von der Selbstorganisation doch erfolgreich ab. Aber jetzt, etwa 500 Meter die Straße weiter bis zum Rudolplatz, und dann mit doch deutlich reduziertem Besitztum – Himmel, dafür will ich einfach keine 600 Euro ausgeben!

Also Eigeninitiative – alles, was in den Peugeot von Manfred passt, selber transportieren, für die größeren Sachen kommen morgen zwei Profis mit einem Kleintransporter. Wenn ich mich so umgucke, werden die höchstens zweimal fahren müssen – für zusammen 45 Euro die Stunde, das ist echt zivil. (Wenn man dagegen eine Obdachloseninitiative beauftragt, die in den hiesigen Kleinanzeigenblättern insererit, kostet es 50 Euro pro Helfer PLUS Auto!) Trotzdem war es wunderbar, dass Dirk mir heute geholfen hat. Die Umzugskisten hätten mich sonst überfordert – außerdem ist es netter zu zweit, die ganze Sache ist viel schneller rum. Hinterher waren wir noch gemütlich essen – DANKE DIRK!

Diesem Text mangelt es deutlich an philosophischer Dimension, sorry! Im Moment scheine ich mich am schreiben fest zuhalten, denn danach will ich ja den Stecker ziehen. Vom Netz gehen, das Telefon einpacken, den Kabelverhau auseinander nehmen – es ist mit eigenartigen Gefühlen verbunden, als täte ich etwas Verbotenes. Auch eine Art Verlustangst ist dabei: wenn ich mal draußen bin, werde ich denn wieder REIN kommen??? Rechtzeitig und ohne Verluste und ohne dass ich etwas Wichtiges verpasst hätte??? Das ist alles ganz irrational und nicht besonders ausgeprägt, nur eine „Unterstimmung“ unter den viel stärkeren Gefühlen, die im Rahmen des Umzugs aufkommen. Aber doch unüberhörbar: DER ANSCHLUSS ist das wichtigste! Um den Anschluss herum wird alles andere angeordnet. Egal, in welchem Zustand sich die neue Wohnung dann gerade befindet, sobald „der Anschluß steht“, ist alles in Butter, alles ok, die Sache gelaufen.

Am Dienstag also. Sagt zumindest die Telekom. Ich könnte das ja hier alles stehen lassen und erstmal abwarten, ob es auch klappt. Hab ich mir zuerst jedenfalls so überlegt, dann aber doch Lust auf den „vollen Umzug“ bekommen. Ich mag nicht in diese leere Wohnung zurück gehen und hier mailen und Webseiten pflegen – dann schon lieber ins Internet-Café, das passt viel besser zu diesem wunderbaren „Ausnahmezustand“.

Wer also was von mir braucht in den nächsten Tagen, kann davon ausgehen, dass ich einmal am Tag Mail abrufe. Viel mehr aber nicht.

Und jetzt zieh ich den Stecker. Macht’s gut!

Diesem Blog per E-Mail folgen…