Gestern ist er angekommen. Schwitzend wuchtete der Postbote die beiden Pakete zu mir in den dritten Stock. Ich kritzelte meinen Namen auf das rutschige Display, das er mir hinhielt, und schon war ich allein mit ihm: ein Dell Dimension 8300 Premium Class-PC mit 1024 MB RAM Arbeitsspeicher und zwei 128 Gigabyte-Festplatten. Ein Quantensprung! Mein letzter Rechner, auf dem ich diesen Text noch immer tippe, ist schon über vier Jahre alt, begnügt sich mit Windows 98 (zu alt für die meisten Viren) und zwei 18-GB-Platten. Er stürzt gelegentlich ab, tut aber ansonsten seinen Dienst klaglos. Vor ihm hatte ich mir jeweils alle zweieinhalb Jahre die „Next Generation“ zugelegt, doch für die Arbeit für und übers Netz reicht der Jetzige völlig aus, ich spürte keinen „Upgrade-Bedarf“: weder spiele ich grafikintensiven Spiele, noch schneide ich Filme, ich gucke keine DVDs, und auch für die Bildbearbeitung tut’s ein Pentium 3 gut. Bilder fürs Web können nun mal keine Daten-Monster sein, sonst würden sie nicht durch die Leitung passen.
Trotzdem, die Zeit war reif! Schon lange hatte ich keine Lust mehr, neue Programme auszuprobieren oder Dinge, mit denen ich früher mal spielte, wie z.B. Soundbearbeitung, wieder ins Laufen zu bringen. Never touch a running system! Die Bilder, die meine neue Digicam mit den 5 Mio Pixel macht, kann ich ohne Wartezeiten nicht bearbeiten, zudem steht zu befürchten, dass zeitgemäße Programme Windows 98 bald nicht mehr unterstützen. Aber das wichtigste: Computertechnisch zu veralten bedeutet auch, sich vom Mainstream der Anwender abzukoppeln: nicht mehr zu erleben, was sie erleben, und sei es die neueste trickreiche Attacke irgendwelcher bösen Würmer. Wenn ich ein Uralt-System fahre, kann ich irgendwann meinen Kunden keinen Rat mehr geben, weil ich keinen Schimmer habe, was auf ihrem System abläuft. Es gibt viele Gründe für einen zeitgemäßen PC, Gründe, die ich allerdings nicht mal abwägen musste, denn „der Neue“ ist ein Geschenk: Lob und Dank dem großzügigen Spender, der damit meine Kreativ-Arbeit unterstützen will!.
Nun steht er also da, noch immer unausgepackt. Die Größe der Aufgabe schreckt mich erstmal: ein unbekanntes Betriebssystem, das schon „sehr anders“ sein soll, wie eine Kollegin sagte, das Installieren der Programme, ohne die ich nicht arbeiten kann, das Umschaufeln der Daten, das „Reparieren“ von XP, das erst mal eine Reihe mittlerweile erschienener Sicherheits-Patches von Microsoft braucht, bevor man sich damit ins Netz wagen kann; das Einrichten der Norten Internet Security-Tools – jede Menge Arbeit! Und allerlei Gefahren: Noch unwissend und unkundig im Umgang, muss ich mit diesem System mitten in den Krieg der Viren-Programmierer gegen die Anti-Viren-Programm-Entwickler treten. Bisher lebte meine alte Gurke ohne Schutzprogramme, Böses kam nur über Anhänge von E-Mails herein, und nicht „irgendwie“ über die Leitung. Da ich kein Microsoft-Mailprogramm benutze, war ich weitgehend geschützt, wenn ich diese Anhänge nur einfach ignorierte, bzw. die Mails löschte. Ein einziges mal hatte ich versehentlich auf einen Virus geklickt, merkliche Probleme gab das aber erst in dem Moment, als ich ein Virenschutzprogramm installiert hatte und den Feind loswerden wollte. Aufgrund dieser Erfahrung hatte ich es dann wieder deinstalliert: Wenn der Virus den Feind nicht sichtet, schloss ich, hat er keinen Grund, aktiv zu werden. Ich verweigerte mich den Fronten und lebte friedlich und ungestört.
Gott sieht’s
Damit ist es jetzt zu Ende. Mit XP kann man sich ohne hochgefahrene Schutzschilde gar nicht erst ins Netz wagen, sagen mir kundige User, man wäre sofort „verwurmt“. Zu Ende auch die Zeit, in der mich das Betriebssystem FRAGT, ob es ein Problem an Microsoft melden soll – XP fragt nicht mehr, sondern steht in fortlaufendem Kontakt mit dem Imperium. Mehr noch: es bedeutet die technische Ermöglichung totaler Überwachung, denn XP sendet immer wieder eine Identifikationsnummer übers Netz, die meinen Computer kenntlich macht. Was immer ich tue, Microsoft weiß, WER es war. Wenn man dazu noch bedenkt, dass Google die Suchvorgänge aller Nutzer open end speichert, mit IP-Nummer natürlich, so dass zumindest die Telekom nachvollziehen könnte, was ich wann gesucht habe, kommt man sich schon ziemlich beobachtet vor: von Giganten umstellt, die mich bald besser kennen können als ich mich selbst.
Aber ich tue ja nichts, was ich zu verbergen hätte! Der Gedanke liegt nahe, tröstet mich bisher auch ganz gut über die ganze Problematik hinweg, doch ich ahne, dass das nicht ausreicht. Kann nicht morgen schon die Gesellschaft sich so verändern, dass das, was ich bereits getan habe, in den Bereich des Illegalen oder zumindest Unerwünschten fällt? Ist nicht schon bald zu erwarten, dass die Daten, die ich vom alten auf den neuen PC mitnehme, mal eben von irgendwem durchgecheckt werden, ob nicht irgendwelche Copyright-Verletzungen vorliegen? Wobei das Copyright ja immer restriktiver wird: bald sind alle Dateien verdächtig, die alt genug sind, um noch keine Informationen über Nutzungsrechte zu enthalten.
Alles in allem bedeutet der Umstieg auf „den Neuen“ tatsächlich in vieler Hinsicht einen Quantensprung, und zwar einen, der nicht nur Freude macht. Ich werde wieder neu lernen müssen, wie ich das System bändige und zur Not austrickse, um mir ein Minimum an persönlicher Autonomie zu retten. Vielleicht installiere ich auf einer zweiten Partition Linux, damit ich das Netz noch betreten kann, ohne dass alles, was ich installiert habe, anfängt, „nach Hause zu telefonieren“.
Think positiv! Der Neue hat einen Pentium 4 2.80 GHz-Prozessor und 1024 MB Arbeitsspeicher: ich werde riesige Bilddateien bearbeiten können, als wären es kleine Webbildchen! Meine gelegentlich entstehenden Bildkompositionen werden dadurch in hoher Auflösung druckbar und verkäuflich – bald gibt’s hier vielleicht die „Serie Friedrichshain“, ausgedruckt auf Din-A3-Fotopapier, verpackt und zugesendet in den bekannten Papprollen. Könnte ein netter kleiner Nebenerwerb werden und mich motivieren, öfter in die Welt der Bilder einzusteigen.
Morgen werde ich den Neuen auspacken und die Sache in Angriff nehmen. Da ich mir keine Ausfallzeiten leisten kann, muss der alte PC bleiben, und zwar in voll funktionsfähigem Zustand. Bisher hab‘ ich mich immer von der Vergangenheit getrennt, den Alten verschenkt, auch damit ist es vorbei. Genau wie Microsoft mich über XP „am Halsband hält“ und Google und Telekom meine Netzbewegungen erforschbar machen, so hängt auch die neue Hardware am Service von Dell. Vier Jahre Vor-Ort-Service am nächsten Arbeitstag – hört sich gut an, aber bisher war ich gewohnt, meinen Rechner morgens in den Laden zu bringen und ihn abends repariert wieder abzuholen. Und eine „Pflicht zur Mitwirkung bei der telefonischen Fehlerdiagnose“ hatte ich auch noch nicht. Das wird jetzt alles aufwändiger, langwieriger, trotz Vor-Ort-Service. Also muss „der Alte“ bleiben, mein Gerätepark wächst.
Er steht jetzt vor der Tür, immer noch verpackt. Ich genieße die letzten Stunden ohne neue Probleme und Möglichkeiten – und klopfe auf Holz!
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