Noch immer schalte ich morgens den falschen Computer ein: bücken, unter dem Schreibtisch den Startknopf drücken, dem Rödeln der Festplatten lauschen – die Gesten sind eingefleischt wie das Zähneputzen, ja, MEHR als das Zähneputzen. Erst wenn der Bildschirm schwarz bleibt, bemerke ich meinen Irrtum, würge den Alt-PC auf halbem Lade-Weg wieder ab und schalte den Neuen ein, der neben dem Monotor steht. Weit sichtbarer zwar, auffällig schwarz – aber physisch ungewohnt.
Neuerdings ist alles schwarz, die Tastatur, die Lautsprecher, der Drucker, die Maus, der PC sowieso, dafür ist die kürzlich angeschaffte Glotze weiß! Ein uralter Text fehlt mir ein, über die „schwarze und die weiße Glotze“, den müsste ich jetzt umschreiben. Ob der Farbwechsel etwas zu bedeuten hat? Präsentiert sich die Gerätschaft dadurch gewichtiger, auffälliger, ernsthafter? An sich liebe ich Schwarz, zumindest bei Klamotten und Kameras. Warum macht es mich also misstrauisch, dass mir das „Hauptgerät“ nun auch farblich entgegen kommt?
Der Neue gehört mir weniger als der Alte, das kommt hinzu. Ich muss ihn mir erobern, seine Vorschläge ignorieren, seine Neigung, alles groß und bunt und in Symbolen darzustellen, in die alte „Sicht der Dinge“ zurück zwingen. Wieviel Lizenzverträge ich schon abgenickt habe, seit ich ihn das erste Mal einschaltete, weiß ich schon gar nicht mehr. Im Handbuch steht zum Thema „Internet-Verbindung“ ein Kapitel über T-Online und eines über AOL, die CDs lagen bei. Nichts über „Netzwerkverbindung“, der selbstbestimmte Zugang zum Netz wird kommunikativ nicht unterstützt. Wie es wohl einem unkundigen Einsteiger mit alledem ergeht? Vielleicht bemerkt er gar nicht mehr, dass noch ein anderes Netz existiert, dass es mehr zu sehen und zu erleben gibt, als die Portale der Konzerne zur Ansicht bringen?
Genug davon! Draußen scheint die Sonne auf das gelbe Laub der Bäume, jeder Windstoß nimmt jetzt viele Blätter mit, wieder mal hab ich den Herbst irgendwie verpasst. Ein paar wenige Spaziergänge durch den bunten Plänterwald mussten dieses Jahr genügen. Macht nichts, ich spüre die Bereitschaft, vom „Außen“ abzusehen, mich in die Welt hinter dem Bildschirm zu versenken, wo es keine Jahreszeiten gibt.
Anfang des Jahres hatte ich beschlossen, mein „Dasein vor dem Monitor“ zu verändern: Das, was ich neben Webdesign am liebsten tue – kommunizieren, schreiben, mit Form und Inhalt, Nähe und Distanz spielen, intensive Gespräche führen – in eine Form zu bringen, die zu meinem Lebensunterhalt beiträgt. Jetzt ist es Oktober, die beiden ersten Schreibkurse sind gestartet, und alles läuft sogar noch besser, als ich es mir vorgestellt hatte. Zwar ist der Arbeitseinsatz ungewohnt, die starke Bindung neu, die mich nun fester denn je „am Draht“ hält, doch ich fühle mich glücklich, spüre: Das ist es!
Dass das kommunikative Geschehen nicht mehr beliebig, nach Bockprinzip und Laune abläuft, ist ein Gewinn, den ich lange schon hätte realisieren können. Mit Menschen zu interagieren, die für sich etwas wollen, die bereit sind, auch etwas zu einzubringen und „am Ball“ zu bleiben, geht weit über das hinaus, was ich aus spontan entstehenden Einzelkontakten und aus der Gruppenkommunikation in Mailinglisten kenne. Die viel beklagte „Beliebigkeit“ der Kommunikation im Netz zeigt sich als das, was sie immer schon war: Mangelnde Bereitschaft, sich einzulassen, Angst, sich zu zeigen und zu öffnen, Unwilligkeit, die Hürden des Technischen gelassen zu sehen und zu lernen, Sorge um den eigenen Status in einer Umgebung, in der die Zeichen und Symbole sozialer Besitzstände zunächst nichts gelten – es gibt ja so viele Gründe, dem Netz und seinen Möglichkeiten reserviert gegenüber zu stehen!
Ein wenig fühle ich mich in die ersten Netzjahre zurück versetzt, als es für die, die sich in den Weiten des Webs trafen, noch selbstverständlich war, dem Anderen mit offenem Visier zu begegnen, die „Räume“, in denen man sich bewegte, selbst zu gestalten und sich auf gleicher Augenhöhe auszutauschen. Das geht heute offenbar nur noch in „geschützten Räumen“ – aber anstatt ohne Ende darüber zu klagen, kann ich ja solche erschaffen und in ihnen etwas veranstalten! Dass die Veranstaltung jetzt Eintritt kostet und die Teilnehmerzahl begrenzt ist, erlebe ich nicht als bedauerliche (wenn auch persönlich nützliche) Kommerzialisierung, sondern als notwendige Bedingung. Im freien „Raum“ der Netze, ohne feste Vor- und Aufgaben, ohne Verbindlichkeit, jedoch mit immer neuen, zufällig sich einfindenden Surfern, kann es einfach nicht funktionieren. Alles bleibt zwangsläufig an der Oberfläche – und deren noch so aufwändige, designerisch und technisch zu Höhen entwickelte Gestaltung kann daran nichts ändern.
Jetzt ist es schon falls halb elf – die Arbeit ruft. Arbeit? Auch dieser Begriff wird mir immer schillernder, vieldeutiger, fraglicher, genau wie andere Basisworte, über die ich immer wieder stolpere, weil ihre Bedeutung nicht mehr selbstverständlich ist. „Persönlich kennen“ zum Beispiel – für die einen bedeutet das ausschließlich, sich „von Angesicht“ getroffen zu haben. Andere sehen erst dann Grund, sich auch mal physisch nahe zu kommen, wenn sie sich bereits kennen gelernt HABEN: per E-Mail-Dialog, durch Besuche auf persönlichen Webseiten, durch gemeinsames Erleben in den öffentlichen Orten der Netze. „Face to face“ ist dann nur ein zusätzlicher Aspekt, unverzichtbar für den Gesamteindruck, gelegentlich sehr angenehm – muss aber nicht zur Gewohnheit werden. Sich regelmäßig im physischen Raum zu treffen, ist keine Garantie für „Beziehung“ im Unterschied zu Beliebigkeit, wie noch immer viele glauben. Die Rede vom „Real Life“ als Bezeichnung für Offline-Ereignisse ist einfach ein bisschen lächerlich, wenn auch derzeit als Hilfsbegriff mangels Alternativen noch in Gebrauch.
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