Von wegen Zahnarzt! Da hab‘ ich mich endlich überwunden, die Praxis drei Häuser weiter aufzusuchen, um das „Schließen der Lücke“ ernsthaft anzugehen, muss aber erfahren, dass ich erst nächstes Jahr einen Termin bekommen kann. „Alles dicht“, sagt die Zahnarzthelferin in diesem beflissen-abweisenden Ton, und schon ist sie wieder davon geeilt!
Oh ja, auf einmal erinnere ich mich: das sind jetzt all die panischen Last-Minute-Patienten, die, voller Angst vor 10 Euro Zuzahlung im Vierteljahr, noch eben mal die Praxen stürmen und sich die Kauleiste runderneuern lassen. Zwar wird in den Medien immer wieder beruhigend gemeldet., dass die „Reformen“ in Sachen Zahnersatz erst 2005 zuschlagen werden, aber wer hört da schon noch hin und glaubt noch irgend etwas. Was ich im Mund habe, kann nicht mehr teurer werden, denkt das Volk, und ich mit meinem „ernsthaften Bedarf“ hab‘ eben Pech gehabt.
Nicht aufregen. Darin bin ich doch geübt! Wenn ich nicht grad breit grinse, sieht man die Lücke nicht. Und WER sollte sie auch sehen? Alle, die mir physisch nahe kommen, mögen mich auch mit Lücke – ich kann also getrost den Jahreswechsel abwarten. So richtig Lust auf Zahnarzt hab‘ ich sowieso nicht. Alles ist gut, wie es ist!
Seit ich einen Fernseher habe, zappe ich des öfteren quer durch die Programme und bekomme die Welt mit, wie sie das TV zeigt. Dabei fällt mir auf, was für einen Stellenwert der medizinisch-industrielle Komplex mittlerweile hat! Unzählige Arzt- und Krankenhaus-Serien werden gezeigt, grünbekittelte, ernst blickende Männer mit Mundschutz operieren und transplantieren, das Reanimieren wird so oft vorgeführt, dass es schon bald jeder Do-it-Yourselfer auch könnte, hätte er die geeigneten Gerätschaften. Der Blick auf die Monitore mit der Herzkurve, die plötzlich in eine gerade Linie übergeht: Exitus! Bzw. doch nicht, denn dann geht diese Wiederbelebungshektik los: Komm schon, komm schon… ich zappe weg und lande in einer Sendung über Schönheitschirurgie: Falten glätten, Fett absaugen, Brust vergrößern – eine der wenigen Wachstumsbranchen in Deutschland, deren Umsatz sich in den letzten Jahren verdreifacht hat.
Ein voluminöser Mittfünfziger liegt auf dem Tisch, ganz entspannt im Dämmerschlaf, während drei Operateure gleichzeitig große Kanülen in Bauch Schenkel und Waden stechen, unter der Haut herum stochern und das eiterfarbene Fett teils abschaben, teils wegsaugen. Widerlich! Dann dasselbe Spiel mit einer wunderschönen schlanken Frau um die zwanzig, sie strebt nach letzter Perfektion und lässt sich die Oberschenkel bearbeiten – was glaubt sie, zu gewinnen? Eine fröhliche Frau in meinem Alter mit ein paar wenigen Mimikfalten verliert eben diese unter der Einspritzung von Eigenfett, dass zuvor am Hintern entnommen wird – ich finde, sie sieht jetzt NICHT besser aus, im Gegenteil, ihr Gesicht wirkt auf einmal langweilig, nichtssagend. Eine Expertin kommt zu Wort, Stirn und Wangen so glatt wie ein Kinderpo. Doch Hals und Hände lassen keinen Zweifel, dass dieser Körper weit älter ist, als es das Gesicht vermuten lässt. Es wirkt wie „hineingestellt“ in ein Ganzes, das durch den glattgestrafften „Fremdkörper“ regelrecht konterkariert wird. Nicht einmal wenn sie lächelt, bilden sich die üblichen Lachfalten zwischen Nasenflügel und Mundwinkel. Statt dessen so ein komisches Zucken – irritierend!
Der Mensch ist ein Ort, wo Krankheit entsteht
Ich zappe weiter, ein Gesundheitsmagazin belehrt über Gallensteine und ihre Entstehung. Jemand spült Geschirr ab und eine Stimme aus dem Off erläutert, dass es dazu ein Spülmittel mit fettlösenden Substanzen braucht. Diesen Job hat im Körper das Gallensekret – aha! Dann werden allerlei Gallensteine gezeigt, eingegossen in Epoxydharz. Hübsch anzusehen. Wer sich allzu fett ernährt, bringt da etwas aus dem Gleichgewicht. Das Spülmittel reicht nicht mehr aus, doch es wird vom Körper immer mehr „angefordert“ – die Galle gerät aus dem Lot, Stoffe kristallisieren, Steine entstehen. Die Moderatorin fragt die anwesende Frau Professor-Doktor: „Warum muss eigentlich immer gleich die ganze Gallenblase entfernt werden? Kann man nicht die Steine heraus operieren und sie belassen?“ Da wir Fernsehzuschauer gerade gelernt haben, dass die Galle kein nutzloser Kropf ist, bin ich gespannt auf die Antwort: „Nun ja,“ sagt Frau Prof. Dr., „zunächst einmal ist die Gallenblase ja der Ort, wo solche Steine entstehen. Wenn wir sie belassen, können sie wieder kommen“. Ah ja! Mir rieselt es kalt den Rücken herunter: Ist mein Körper nicht insgesamt ein „Ort, an dem Krankheiten entstehen“? Sollte man da nicht gleich vorbeugend zu radikalen Maßnahmen schreiten? Warum beim Rausoperieren von Galle, Gebärmutter, Mandeln und anderer Einzelteile stehen bleiben? Vielleicht ist der Mensch etwas, das man besser insgesamt verhüten sollte?
Nächstes Jahr werde ich fünfzig und schon länger spüre ich den sich verstärkenden „Sog“ des medizinisch-industriellen Komplexes. Vielfach wird mir kommuniziert: du bist in einem „kritischen Alter“, du musst jetzt endlich mal zum Arzt gehen und dich durchchecken lassen. „Du gehst doch hoffentlich zur Vorsorge?“, werde ich öfter gefragt, und wenn ich verneine, ernte ich irritierte Blicke, Nachfragen, Vorwürfe, Mahnungen. Bisher war es meine Strategie, diesen Konformitätsdruck einfach zu ignorieren: Fühle ich mich doch, abgesehen von der Erkältung und meinen diversen „Sitz-Schäden“, völlig gesund und denke erst dann daran, einen Arzt aufzusuchen, wenn dem nicht mehr so ist. Wobei, ich erinnere mich gut, mir die letzten Arztbesuche vor etwa zehn Jahren absolut nichts gebracht haben: Sie wollten mich nur auf gut Glück medikamentieren oder „Schmerzen wegspritzen“, ohne mir sagen zu können, was ich eigentlich für eine Störung habe und woher sie kommt. „Da lebe ich doch lieber mit meinen Symptomen“, hab ich gesagt. „Die kann ich beobachten und dann komm ich ja vielleicht noch drauf“. Erstaunte Blicke – und tschüss!
Im Diary hab‘ ich Themen rund um Krankheit und Gesundheit bisher eher vermieden. Jetzt denke ich um: Ignorieren ist auf Dauer keine Lösung. Mich ärgert die Art und Weise, wie sich viele entmündigen lassen, wie sie vom eigenen Körper, dem eigenen Gespür für Befindlichkeiten, für gesunde und kranke Zustände, total entfremdet werden. Und es auch noch für ganz normal halten, sich mit Medikamenten vollzuknallen, nur weil „Laborwerte“ einen „Mangel“ oder „Überschuss“ von diesem oder jenem Stöffchen im Blut festgestellt haben. Erhöhte Cholesterinwerte, zu hoher oder niedriger Blutdruck, Eisenmangel, zuwenig B-Vitamine – da haben wir doch was! (Damit machen wir unsere Milliardenumsätze…)
Dass im Jahre 2003 der Mensch noch immer als ein Chemiebaukasten angesehen wird, wo es nur darum geht, im Reagenzglas die richtige Mischung herzustellen, empfinde ich als ziemlich krass! Man wechselt doch auch nicht die Birne aus, die am Armaturenbrett rot blinkt, sondern schaut unter die Motorhaube, was im System eventuell aus dem Gleichgewicht ist.
Das Gesundheitssystem jedenfalls ist mehr als „aus dem Gleichgewicht“! Und noch kein Politiker hat es geschafft, sich gegen die Lobbys auch nur ansatzweise durchzusetzen. Diese, bzw. der gesamte medizinisch-industrielle Komplex, sind aber nur die Hälfte der Macht: die andere Hälfte sind wir alle, die wir es in der Hand haben, ob wir uns diesem geistlos-mechanistischem Denken anschließen, das unzählige Opfer fordert und riesige Profite bringt. Gut, dass es zur Zeit knirscht! Wenn die Verantwortung des Einzelnen in Gestalt von drastisch steigenden Zuzahlungen von außen erzwungen wird, ist das vielleicht mal Anreiz genug, ein bisschen wacher zu werden – und mit dem Selber-Denken anzufangen.
(Ich fange mit den Büchern an, die ich für einen Kunden auf Rauslink dieser Seite zusammengestellt habe. Wow, ist das spannend..!)
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