Braucht es eigentlich eine „Lizenz zum Dasein“? Muss mir erst jemand erlauben, SO zu sein, wie ich gerade bin? Habe ich die Pflicht, mich dafür zu rechtfertigen? Muss ich gar Gründe und Ursachen benennen, wissenschaftliche Forschungen heran ziehen, mein Denken, Fühlen und Verhalten stets mit dem Denken und Meinen anderer abgleichen? Zwingt mich irgend etwas dazu, heute genauso zu sein wie gestern oder vorige Woche? Muss ich „logisch nachvollziehbar“ bzw. „vernünftig“ sein? Oder gar politisch korrekt?
Viele meiner Mitmenschen, wie sie mir im „realen Leben“ und per Text im Internet begegnen, scheinen gewisse Probleme mit dem eigenen „So-Sein“ zu haben. Es kommt zumindest selten vor, dass jemand mal einfach so von sich erzählt – ohne große Vorreden, ohne Bezüge auf das, was „man sollte“ oder was „man tut“. Und auch ohne eigene Folgerungen, was „man tun sollte“.
Statt dessen werden abstrahierte Meinungen über Gott und die Welt ausgetauscht, die irgendwo in der Zeitung, in Büchern oder anderen Medien stehen könnten, würde man sie ordentlich ausformulieren. Und vermutlich stammen sie da ja auch her.
Sich zeigen?
Was will ich, wenn ich mit Menschen in Kontakt trete? Will ich chaotisch zusammengestellte, unprofessionell präsentierte Medieninhalte konsumieren? Gewiss nicht. Dass ein menschliches Gehirn „Textbausteine“ ganz gut kombinieren kann, muss ich mir nicht immer wieder vorführen lassen, das ist mir bekannt. Da greif ich lieber zum Original meiner Wahl, das ist besser aufbereitet und ich kann es nutzen, wenn’s mir danach ist.
Natürlich will ich auch „über die Welt“ sprechen und nicht nur über mich. Jemand, der ständig nur von sich erzählt, kann ganz schön egozentrisch wirken – ich frag mich dann: Gibt’s für den eigentlich nichts anderes? Kein „da draußen“, keine Gesellschaft, keine Wirtschaft, keine Politik, keine „Welt“? Nur dieses kleine hypertrophierte Ego und sein Wohl und Wehe?
Aus der Betrachtung möglicher Extreme lässt sich wenig lernen, außer vielleicht resignative Erkenntnisse á la „wie man’s macht, ist’s falsch“. Also bleib ich dran an dem, was ich selbst empfinde: Solange ich nicht weiß, WER jemand ist, er also noch nichts von sich erzählt hat, bleiben seine Aussagen für mich weitgehend bedeutungslos. Wenn ich außerhalb technisch-organisatorischer Alltagshandlungen in Kontakt trete, will ich nicht Informationen austauschen, sondern das je eigene Erleben. Das gilt im Internet genauso wie auf jeder anderen Kommunikationsebene. Es ist nun mal ein himmelweiter Unterschied, ob ich mit einem 150-Kilo-Mann übers Dick-Sein spreche oder mit einer Magersüchtigen. Ein Gespräch ist für mich dann bereichernd, wenn es zwischen dem Persönlichen und dem Allgemeinen, zwischen „Ich“ und „Welt“ oszilliert – und ich erlebe Sternstunden, wenn das mit Leichtigkeit geschieht, ohne Blockaden und Tabu-Zonen.
Viele wollen nichts von sich erzählen, weil sie fürchten, von anderen abgelehnt zu werden. Mit dieser Angst setzt sich vermutlich jeder mal auseinander, dem der Größenwahn nicht in die Wiege gelegt ist. Wer öffentlich schreibt, sei es in Foren oder auf Homepages und Diarys, begegnet ihr bewusster, denn Schreiben ist nun mal ein bewussteres Tun als das bloße spontane Miteinander-Reden. Aber gerade das ist die Chance, der Vorteil des Schreibens. Indem ich mir über meine Befürchtungen klar werde, besinne ich mich auch auf das, was ich eigentlich will. Was gewinne ich denn, wenn ich einen möglichst dichten Nebel um meine Person erzeuge? Werde ich dadurch eher geschätzt, geliebt und anerkannt? Gewinne ich an Glaubwürdigkeit, wenn ich mich aufs Allgemeine beschränke, vielleicht garniert mit ein paar wissenschaftlichen Erkenntnissen und Zitaten anerkannter Autoritäten? Was hat das alles noch mit mir zu tun?
Schlimmer noch, wenn ich bewusst ein falsches Bild abgebe. Das muss ich ja dann ständig aufrecht erhalten, muss mir merken, was zu meiner „erfundenen Identität“ passt und was nicht – was für ein Stress und wie nutzlos! Mag ja sein, dass die Leute auf meinen „Kunstcharakter“ abfahren – aber was bringt MIR das? ICH bin’s ja dann nicht, die sie mögen. Warum dann nicht gleich Drehbücher für Soap-Operas schreiben und mit dem eigenen Erfindungsgeist richtig Geld verdienen, wenn diese Art Akzeptanz schon ausreicht?
Von den Wertegebern
Es ist kein leichtes Geschäft, sich von den Bewertungen und Urteilen anderer frei zu machen. In uns lebt das Erbe der Affenhorde: immer erst mal gucken, was das Alpha-Männchen oder die starken Mütter gerade tun. Dabei hatten sie es damit noch einfach. In unseren entwickelten Mediengesellschaften werden wir zugeschüttet mit unzähligen, einander oft widersprechenden Vorgaben, wie ein „richtiges“ bzw. „gutes“ Leben zu leben sei. (Man denke nur allein mal an die verschiedenen, im Lauf der Jahre wechselnden Ernährungslehren!). Durch schiere Vielfalt und Masse ist es praktisch unmöglich geworden, von „da draußen“ eine schlichte Handlungsanweisung zu beziehen, wenn es sich nicht gerade um so banale Dinge wie den Aufbau eines IKEA-Möbels handelt.
Und doch lebt der Wunsch weiter, es „richtig“ zu machen, sich bei „den Guten“ zu sehen und dafür zumindest ein Schulterklopfen zu ernten. Wie aber wäre das denn überhaupt zu erreichen, wenn man sich schon mal dazu bekennt? Mit einem „Common Sense“ ist heute nicht mehr ernsthaft zu rechnen. Letztlich halten wir es inmitten der unüberschaubar gewordenen Werte und Wahrheiten dann doch wie die Affen: je näher mir jemand steht, desto mehr bedeutet mir seine Meinung, sein Urteil, sein je persönliches „Man sollte…“. Daran richte ich – mit oder auch mal ohne Diskussion – mein Denken und Verhalten aus und nenne das dann vielleicht „Harmonie“ (und wenn es mal keine Einigung gibt, ist es ein „Unglück“). Erst wenn ich feststelle, dass ich – das fremde „Rezept“ befolgend – immer wieder im Leiden strande, bediene ich mich aus dem großen Pool der Alternativen und such mir eine aus, die meinen Wünschen und Gefühlen besser entspricht.
Die Befreiung von den Eltern ist die erste Station, die so bewältigt wird. In der Regel folgt aber nicht das „ganz Andere“, schon gar nicht das „Eigene“, sondern nur ein neues Korsett aus Werten und Weisungen, bezogen von anderen Menschen, die auf einmal wichtiger geworden sind – z.B. die Peergroup der Jugendlichen, später die jeweiligen Beziehungs- oder Ehepartner.
Da die menschliche Gesellschaft doch ein bisschen mehr auf dem Kasten hat als die Affenhorde, lernen wir noch eine ganze Reihe Instanzen kennen, deren Wertesysteme und Beurteilungskriterien im Lauf des Lebens Bedeutung gewinnen: der Arbeitsplatz als Karriereleiter, politische Initiativen und Parteien, Vereine und Verbände, Kirchen und/oder spirituelle Gruppen, schließlich unzählige Subkulturen und einzelne Autoritäten und „Lehren“, die in ihnen etwas gelten. Auch im eigenen Karnickelzüchterverein möchte man sich nicht ohne Not unmöglich machen!
Von Wertegebern umstellt, immer bemüht, es allen recht zu machen – ist so das Glück zu gewinnen?
Sich selbst sehen
Zugunsten des Hineinwachsens in die Gesellschaft lernen wir, vor allem anderen zu beachten, was von außen kommt. (Auch wer stets eine Haltung der Ablehnung und des Widerstands gegenüber allem „Herrschenden“ einnimmt, schaut nach außen.) Gleichzeitig sind wir für uns selber blind, denn das Denken ist von diesem ach-so-wichtigen Außen vollständig okkupiert: Selbst WENN der Blick sich mal nach innen wendet, vielleicht, weil üble Gefühle nach Beachtung verlangen, dann geschieht doch nichts weiter, als dass wir die übernommenen Denksysteme und ihre Bewertungskriterien benutzen, um Defizite zu bemerken und uns selbst zu be- und zu verurteilen.
Bei mir dauerte das bis ins 36. Jahr. Damals war ich auf einem Tiefpunkt angekommen, der sich gewaschen hatte. Ein Jahrzehnt als Polit-Aktivistin, Stadtteilarbeiterin, Sanierungsbeirätin, Betroffenenvertreterin, Zeitungsmacherin, Straßenfest-Veranstalterin, Kulturvereins-Vorstandsmitglied, Fraktionsassistentin und schließlich als Kneipenwirtin lag hinter mir. Ich hatte allen in meinem Stadtteil existierenden „fortschrittlichen Initiativen“ gedient und selbst noch neue dazu gegründet, hatte alle Zeit, die nicht zum Schlafen drauf ging, für den „Kampf“ verwendet, immer begeistert und überzeugt von allem, was ich tat. „Persönliche Interessen“ kannte ich nicht, ich „verwirklichte“ mich ja gerade in diesem Herumwirbeln an vielen Fronten. Vorher war ich nichts und niemand, jetzt hatte ich Macht, konnte wirken, konnte die Welt verändern! Und ich verachtete alle Mitstreiter, die noch so etwas wie ein Privatleben hatten, als Deserteure: egoistische Spinner, die nicht wissen, was wirklich wichtig ist.
Aber das „innere Imperium“ schlug zurück. Ich spürte, wie meine Begeisterung nachließ und wusste nicht, warum. Bemerkte auf einmal, dass ich zwar viele Neider und Bewunderer hatte, aber kaum Freunde – nur Mitstreiter, die genau wie ich die halbe Nacht in der Kiezkneipe zubrachten, dort weiter die „wichtigen Dinge“ ausmauschelten und sich dabei zunehmend betranken. Gänzlich ungewohnte Gedanken kamen auf, z.B. „was hab ICH eigentlich davon?“.
Doch jenseits meines übervollen Funktionärinnen-Daseins war nichts als beängstigende Leere. Ich begann, mit zunehmender Fluchtgeschwindigkeit aus meinem bisherigen Leben heraus in diese Leere hinein zu fallen. Nach und nach baute ich meine „Funktionen“ ab und versuchte, weniger exponiert zu leben, aber das änderte nichts am zunehmend verzweifelten Lebensgefühl. Schließlich realisierte ich, dass ich mittlerweile ein Alkoholproblem hatte, doch in meinem Macher-Wahn glaubte ich noch lange, ich könne mir selber helfen und probierte die verschiedensten „kleinen Fluchten“: Auslandsaufenthalte, eine Ausbildung in klassischer Massage – alles zwecklos. Das Rezept „mehr vom selben“ funktionierte nicht mehr, es nützte Nichts, die ART meiner Aktivitäten zu verändern, ich selbst hätte mich ändern müssen. Aber wie sollte das gehen, solange ich mich nur als falsch funktionierendes Problemfeld wahrnahm und nur versuchte „mehr Druck“ auszuüben? Es ging nicht. Ich war mit meinem Latein am Ende – und irgendwann sah ich es auch ein: Ich gab zu, dem Alkohol gegenüber machtlos zu sein und nicht mehr zu wissen (!), wie das Leben zu meistern sei.
Einerseits markierte diese Einsicht den Tiefpunkt der Erfahrung, in die ich mich hineingelebt hatte, andrerseits war sie der erste Schritt aus ihr heraus. Und gleichzeitig Teil des „neuen Konzepts“ vom richtigen Leben, das ich nun von den Anonymen Alkoholikern übernahm. Anders als alle bisherigen Wertesysteme, die ich gelebt hatte, richtete es den Blick nach innen: das Seelenheil, in diesem Rahmen fassbar gemacht als „Nüchternheit“, wurde oberster Wert, dem sich sämtliches Denken und Verhalten unterzuordnen hatte.
Grundloses Dasein
Diese Geschichte hab‘ ich schon an anderer Stelle ausführlich erzählt. Hier geht es mir nur um den einen Unterschied, der mein In-der-Welt-Sein drastisch verändert hat: Nicht mehr „urteilend“ von außen nach innen schauen, um das eigene SoSein zu manipulieren bzw. „in den Griff“ zu bekommen, sondern zunächst einmal nur sehen, was da eigentlich ist – und sich dann danach richten. Wenn ich mich in einer Situation aus was für Gründen auch immer (Langeweile, Psychostress etc.) so fühlte, dass ich mich betrinken hätte müssen, um zu bleiben, dann war es eben angesagt, zu gehen.
Auf einmal war das Leben sehr einfach. Keine inneren Brandreden mehr (ich sollte jetzt aber, ich müsste, ich darf nicht…), sondern sehen, was ist, und mich danach richten. Mein „SoSein“ in seinen 1000 Gestalten braucht keine Rechtfertigung und kein Konzept. Als „Nicht-Konzept“ wird diese Haltung schon bald allumfassend, hebt völlig vom „Anwendungsfall Sucht“ ab und wird selbstverständlich.
Jetzt erst fiel mir auf, was das „ganz normale Leben“ üblicherweise bedeutet: Den Versuch, jegliche Lebensäußerung, alle Gedanken, Gefühle, Empfindungen und Handlungen in einen stimmigen, logisch nachvollziehbaren Zusammenhang zu zwingen – abgeprüft anhand akzeptierter Wertesysteme. Was reinpasst, ist gut, der Rest ist wegzudrücken, zu verleugnen, zu bemänteln, zu betäuben. Ja, er wird in der Regel gar nicht mehr gesehen, weil nicht sein kann, was nicht sein darf.
Sehen, was ist, und mich danach richten – das bedeutet in der Praxis, dass es nicht zuvorderst darauf ankommt, was für einen Eindruck ich bei Anderen mache. Dieser Blickwinkel verschwindet zwar nicht völlig, existiert aber nur noch unter „ferner liefen…“. An der Stelle wächst das Bewusstsein für die Grenzen des Reichs der Notwendigkeit: Wenn ich z.B. das Angebot mache, eine bestimmte Dienstleistung zu erbringen, dann will und muss ich den Eindruck erwecken, dass ich den Dienst auch verlässlich und nach den Regeln der Kunst leisten kann. Wenn ich für ein kommerzielles Printmedium schreibe, habe ich die dort geforderten Schubladen zu bedienen, mein spontaner Selbstausdruck ist beschränkt. Auch im Umgang mit meiner Vermieterin, im Einhalten von Verträgen, Gesetzen und Vorschriften kann ich nicht nach Gusto agieren, sondern muss „stimmig“ handeln, auch dann, wenn in mir grad ein Chaos herrscht.
Konsistenz und Tugendhaftigkeit?
Ansonsten aber – z.B. in diesem Diary, im Umgang mit Freunden und Bekannten, im Kontakt mit beliebigen Fremden, in allen Aktivitäten, die NICHT einem Lebensbasis-erhaltenden Zweck verpflichtet sind, kann ich sein, wie ich nun mal gerade bin: weder immer gleich, noch immer gut. Konsistenz und Tugendhaftigkeit existieren nur als Fallout von Wertesystemen, sind nachträgliche Bewertungen, nicht originäre Realitäten. Es ist ungeheuer entspannend, sich dessen stets bewusst zu sein. Und ungemein lehrreich, zu beobachten, was aus den „wichtigen Dingen“ (z.B. Liebe…) wird, wenn man sie nicht durch ein Gestrüpp aus Konzepten betrachtet, die sagen, wie alles „sein sollte“, sondern nur wahrnimmt, was tatsächlich ist.
Einen Artikel wie diesen schreibe ich nicht, um die Welt zu belehren, sondern um mir selbst neu vor Augen zu führen, was ich schon lange weiß – was ich über lange gute Zeiten lebe, aber doch auch immer wieder mal zu verlieren drohe. Dann verengt sich der Blick wieder, ich bin mit mir uneins, gerate in „Auseinander-Setzungen“ mit Anderen, denke allen Ernstes über Konzepte nach, wie man sein sollte, und versacke in allerlei Suchtverhalten.
Schreiben ist dann ein wunderbares „Geländer“, an dem ich mich festhalten und wieder finden kann, wenn ich dabei bin, mich zu verlieren.
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