Oft wundere ich mich, wie empfindlich Menschen auf das reagieren, was ein Anderer ihnen schreibt – zum Beispiel auf einem Webboard oder in privater Email. Schon 1996, als ich eine große Mailingliste zum Thema „Webkultur“ moderierte, war ich hauptsächlich damit beschäftigt, die „Stimmung zu balancieren“: alles mitlesen, bemerken, wenn sich jemand auf den Schlips getreten fühlt, selber provoziert, nur noch Albernheiten oder gar Feindseliges postet – und eingreifen, die Wogen glätten, Klarheit und Freundlichkeit verbreiten, soweit eben möglich. Tat ich es nicht, konnte ich zusehen, wie schnell die negativen Gefühle überhand nahmen, und als Listenveranstalterin bekam ich dann auch gleich die Austritte mit, die sich zu solchen Gelegenheiten häuften.
Es scheint, als lägen die Nerven besonders blank, wenn wir von einem Menschen „Text only“ mitbekommen – und nicht das gesamte Repertoire an Mimik und Gestik, das in einem Gespräch „von Angesicht zu Angesicht“ die Rede begleitet und ergänzt. Wir sehen das verbindliche oder fragende Lächeln nicht, sondern lesen nur die „knallharten“ Worte. Die verstehen wir dann jeweils so, wie wir uns gerade fühlen und über uns selbst denken. Wer sich selbst negativ bewertet, sich unsicher fühlt und vor allem Ängste in sich bewegt, erlebt Äußerungen Anderer leicht als Angriff oder Beleidigung. Wer selber kaum je die eigene Wahrheit schreibt, sondern nur „spielerisch“ dies und das postet, geht davon aus, das die Anderen das genauso halten und sieht keinen Grund, vorsichtig zu sein, um fremde Gefühle nicht zu verletzen. Und wer das eigene Leiden, wo immer es spürbar wird, sofort mit Aktivitäten verdrängt, wird sich gefordert fühlen, Leidensäußerungen Anderer mit guten Ratschlägen und rationalen Relativierungen zu beantworten.
Verstrickungen
Das alles hab‘ ich selber mitgelebt und mitgelitten. Vor allem in den ersten Netzjahren hatte ich tiefschürfende Dialoge mit Menschen, die ich noch nie im Leben gesehen hatte. Ich fieberte ihren Mails entgegen und konnte einen halben Tag verstört sein, wenn jemand mich „nicht richtig verstanden“ hatte. Im Versuch, die Dinge richtig zu stellen, erlebte ich dann zu meinem Schrecken, dass sich alles nur noch verschlimmerte. Es war, als verwickelte man sich gemeinsam in ein immer dichteres und dornigeres Gestrüpp – und zwar umso dichter und dorniger, je wichtiger es mir war, dass der Andere mich „richtig“ versteht.
Es hat gedauert, bis ich erkannte, was da eigentlich stattfindet. Dass ich immer dann, wenn starke Gefühle auftreten, nicht wirklich mit dem Anderen spreche, sondern mit meinen eigenen Ängsten und dunklen Seiten. Es gäbe nämlich keinen Grund, mich aufzuregen, wenn mein Gegenüber etwas „Falsches“ über mich denkt, wäre da nicht ein Thema angesprochen, mit dem ich tatsächlich Schwierigkeiten habe: Ich will/darf auf keinen Fall SO sein, also darf man „sowas“ von mir auch nicht denken. Die Worte des Anderen reißen die nur notdürftig verpflasterte Wunde auf und bringen mein inneres Gleichgewicht in Gefahr. Wenn ich das Gefühl habe, reagieren zu MÜSSEN, kann ich sicher sein, dass nicht der Andere das Problem ist, sondern ich selbst.
Nennt mich zum Beispiel jemand eine Lügnerin, wird mich das nur dann aus der Fassung bringen, wenn es zu meinem Selbstbild gehört, niemals zu lügen. Frauenfeindliche Sprüche können mich nur verletzen, solange ich mich als Frau tatsächlich unsicher und unterdrückt fühle und fortlaufend strampeln muss, um mir und der Welt das Gegenteil zu beweisen. Ein Mann wird sich angegriffen fühlen, wenn ihm unterstellt wird, er kommuniziere dies oder jenes allein aus Gründen „sexueller Anmache“ – aber nur, solange er selbst ein Problem mit dem eigenen erotischen Verlangen hat. Und wer nach Macht über Andere strebt, sich dies aber nicht eingestehen kann, wird von jeder Bemerkung provoziert werden, in die er einen entsprechenden Vorwurf hineinlegen kann – und sei es nur ein schnoddriges: „Oh, Peter meldet sich zu Wort!“
Das Theater verlassen
Sich selbst in alledem erkennen heißt, auch Andere zu erkennen. Und auf einmal bin ich nicht mehr „drin“, sondern stehe daneben und erlebe ein zunehmend langweiliges Theaterstück, in dem ich alle Rollen schon kenne, weil ich sie viele Male spielte – engagiert und gänzlich identifiziert.
Damit ist es dann plötzlich vorbei: zwar spüre ich gelegentlich noch den Impuls, im Sinne der „Rolle“ zu agieren, wenn jemand eine meiner Empfindlichkeiten anspricht, doch das alleine reicht nicht mehr aus, um mich in Aktion zu versetzen. Ich kenn‘ mich ja schon, es reißt mich einfach nicht mehr vom Hocker, was ein Anderer über mich denken und sagen mag. Entweder er hat recht oder er irrt – so what? Kein Grund, mich zu erregen. Zeitgleich lese ich mit, was er durch seine Äußerungen über sich selber mitteilt, doch wäre es sinnlos, ihm das ungefragt transparent machen zu wollen. Es würde nicht funktionieren, er geht ja ganz in seiner Rolle auf.
Zuerst ist es befreiend, das Theater als solches zu erkennen und keinen Zwang mehr zu verspüren, es mitzuspielen. Wie schön, wenn der Schmerz nachlässt! Kein Psychostress mehr, kein automatenhaftes Reagieren, kein Grund mehr, in dornigem Kommunikationsgestrüpp um ein möglichst verletzungsarmes Durchkommen zu kämpfen – wunderbar!
Wenn die Freude über die Befreiung dann aber mal verflogen ist, kommt die Leere. Das Mitspielen im Theater hat immerhin einen großen Teil des Lebens ausgemacht, hat Gefühle erregt und Gedanken bewegt, mir Leiden und Freude beschert und mich über alles mögliche tagelang grübeln lassen. Was tritt nun an diese Stelle? Womit füllt sich der Raum, der da aufreißt? „Der Andere“ ist nicht mehr Teufel und auch nicht mehr Gott, der Mitmensch ist genauso entzaubert, wie ich mir selbst nichts mehr „Besonderes“ bin. Nun gut – aber was kommt jetzt?
Ich weiß es nicht. Schon längere Zeit lebe ich in diesem Zustand und denke mir: das kann es doch nicht schon gewesen sein! Aus purer Langeweile spiele ich hier und da mal eine Rolle im Theater mit, der „Wellness-Gedanke“ hat an Bedeutung gewonnen, ich besuche die Sauna, gehe gern spazieren und treibe Sport. Auch Sex ist mir wichtiger geworden – immerhin liegt im Erotischen ein „Spielpotenzial“, das ich früher gar nicht nutzen konnte, weil mein Selbstwertgefühl noch ganz davon abhing, was der Andere über mich denkt.
Einige wenige Menschen lasse ich – als ganze Menschen, nicht nur als Text – ganz nahe an mich heran, zeige mich mit allen hellen und dunklen Seiten, ohne mich noch drum zu kümmern, ob das Ganze ein „stimmiges Bild“ ergibt (tut es nicht!). Wenn es in solcher Nähe dann doch vorkommt, dass ich wieder mal „am Anderen leide“, dann weiß ich: da ist noch ein Restbestand an Unausgegorenem, ein Stück Blindheit in Bezug auf mich selbst. Ich versuche dann, es beobachtend zu erkennen und stelle regelmäßig fest, dass jetzt Bestände auf dem Problemtisch liegen, von denen ich nicht mehr sagen kann, ob das noch „ich“ bin, oder ob das schon „Welt“ ist. Ja, diese ganze Begrifflichkeit beginnt, zu verschwimmen.
Auf einmal geht es um die Frage nach den Basics des Mensch-Seins: von jeder Menge Leiden kann ich mich durch Selbsterkenntnis befreien, aber es bleibt offenbar ein Rest, der nicht verschwinden wird, solange ICH nicht verschwinde. Den bekomme ich niemals weg, er lässt sich allenfalls „transzendieren“ indem ich ihn akzeptiere. Da ich dieses Geschäft aber immer neidlos den Heiligen und Erleuchteten dieser Welt überlassen habe, muss ich halt mit manchem Stachel im Fleisch leben. Bisher lässt es sich ja auch recht gut aushalten. (…sagte der aus dem 20.Stock Stürzende, als er am 7. Stockwerk vorbei flog… ).
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