Claudia am 09. November 2004 —

Diary-Flaute unterm Gerüst

Die vierte Woche unterm blickdicht verhangenem Gerüst ist rum. Hab‘ ich mich dran gewöhnt? Der Bauarbeiter vor meinem Fenster wuchtet gerade eine Platte in den vierten Stock, ich sehe grobe, farbverkleckerte Schuhe und ebensolche Hosen, höre dumpfe Stimmen sich etwas Unverständliches zurufen. Die laute Geschäftigkeit hält erfahrungsgemäß etwa eine Stunde an, dann machen sie ihre erste Pause.

Gleich werde ich die Texte der Teilnehmer aus dem Kurs „Philosophieren in der ersten Person“ kommentieren. Die neuen Szenen der „Erotiker“, wie ich die Mitschreiber aus „Erotisch schreiben“ bei mir nenne, hab‘ ich gestern nacht noch geschafft. Auch die beiden Coaching-Klienten sind versorgt, warten jedoch auf neue Schreibimpulse, genau wie alle Anderen.

Vor einem guten Jahr hab‘ ich mit Schreibimpulse.de angefangen: das erste eigene Webprojekt im kommerziellen Sektor. Ein gänzlich neuer Versuch, dem, was ich gerne tue, die Form einer Dienstleistung zu geben, die zu meinem Einkommen beiträgt. Wenn gute Nachrichten auch langweilig sein mögen: es ist ein Erfolg! Zwar ist nicht jeder Kurs ausgebucht, denn meine Werbemöglichkeiten sind beschränkt, doch ist der Spaßfaktor in jeder neuen Runde hoch: Es ist wunderbar, dabei zu sein, wenn sich Menschen ihren „wesentlichen Themen“ öffnen, wenn sie schreibend Neues, gar Brisantes riskieren – auch wenn es mal schlaffe Phasen gibt, kommt immer wieder ein Text, der alle berührt, der MICH berührt und aus dem „Alltagsschlaf“ heraus reißt.

Es ist das erste Mal, dass ich zwei Kurse und einige Einzelpersonen gleichzeitig betreue. Liegt es daran, dass hier im Digital Diary wochenlange Flaute herrscht? Ja und nein. Ich empfinde ein Gefühl der Verpuppung, passend zum verhangenen Gerüst, das mir den Blick nach draußen versperrt, passend zum November, den ich spüre, aber kaum sehe. Jahrelang war ich mit der Form, die ich fürs eigene Schreiben in Gestalt des Digital Diary wählte, vollkommen zufrieden: es war nie ein Tagebuch, das vom Frisörbesuch am Morgen und vom Problem mit dem Lebensgefährten berichtet, auch kein Blog, das mit ein paar Sätzen mehrmals am Tag bekannt macht, dass es mich noch gibt, sondern im wesentlichen eine Plattform für meine „Gedanken über die Welt“: unsortiert, ohne Zwang, mich selbst in eine Schublade einzuordnen, weder, was die Textsorte angeht, noch von den Themen her.

Im Moment habe ich das Gefühl, aus der selbst geschaffenen Mega-Schublade heraus zu wachsen. Was ich über die Welt, das Leben, und mich selbst denke, reizt mich zur Zeit nicht zu Artikeln für die Allgemeinheit. Es wird vielleicht durch die Kurse und die damit einher gehenden Privatgespräche „dialogisch verbraucht“, bzw. sinnvoll genutzt. Zudem begegne ich im Erotik-Kurs der Faszination des belletristischen Schreibens. Schien mir das früher belanglos, bloßes „Werke schaffen“, dem ich mein mich tief befriedigendes „Philosophieren in der ersten Person“ entgegen setzte, so erkenne ich jetzt das Potenzial, das in solchem Schreiben steckt: nicht mehr am Faktischen, selbst Erlebten kleben und gedanklich um Einordnung und Bewertung ringen, sondern im freien Spiel der Worte dem Form geben, was man ausdrücken will: es ZEIGEN, nicht SAGEN!

Als ersten Schritt, diesem Schreiberleben Gestalt zu geben, werde ich auf Schreibimpulse.de ein erotisches Webzine eröffnen: mit Teilnehmertexten, eigenen Beiträgen und Einsendungen frei schweifender Autorinnen und Autoren. Der Plan bringt mich ein Stück „back to the Roots“: 1996 bis 1998 gab es die Cyberzines „Human Voices“ und „Missing Link“ mit Gedichten, philosophischen Prosa-Texten und einer aktiven Community rund ums Geschehen. Ich bin gespannt, wie das neue Projekt im Vergleich dazu werden wird! (Wer dazu Beiträge einsenden will, kann sie mir bereits schicken: ich wähle allerdings nach eigenen Kriterien aus, welche ins Webzine kommen).

Und das Digital Diary? Die Flaute wird vorüber gehen, wenn das Neue festere Konturen gewonnen hat. Es ist noch jedes Mal weiter gegangen, auch wenn ich immer mal wieder dachte: Was soll ich denn da noch schreiben? Ich hab‘ doch eigentlich alles gesagt!

Jetzt ruft mich die Arbeit: im Moment pflege ich einen wenig nachhaltigen Stil, esse unregelmäßig, ignoriere das Fitness-Center, gönn‘ mir nicht mal Sauna und war prompt über zwei Wochen schwer erkältet. „Mich-selbst-am-Riemen-reißen“ kommt derzeit allein den festen Pflichten zugute. Ansonsten überlasse ich alles seiner Eigendynamik, bemühe mich nicht ums „gesunde Leben“ oder andere Meta-Ziele: in der Verpuppung löst sich alles, was war, vollständig auf – zumindest ist das bei Raupen so, wie es bei mir ist, wird sich zeigen.

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