„Du hast nur deshalb Angst vor dem Ersticken, weil du noch nicht mitten drin bist! Sterben ist immer JETZT!“, sagt M. mein Ex-Lebensgefährte. Unser Gespräch nach dem gemütlichen gemeinsamen Abendessen, das ich immer Mittwochs für ihn koche, kreist um Tod und Sterben. Genauer gesagt darum, wie wir es gerne hätten, wenn’s soweit ist. Er möchte am liebsten draußen in der Natur sein, sitzend an einen Baum gelehnt meditieren, bis die Barbiturate wirken.
Ich gebe zu bedenken, dass es vielleicht besser wäre, die Errungenschaften der Medizin zur Verfügung zu haben: Selber wählen, wann man lieber das Bewusstsein verliert, anstatt zum Beispiel ein Ersticken zu erleben – viele Arten des Sterbens aufgrund gängiger Krankheiten sind letztlich ein Ersticken. Wenn ich da draußen an einem Baum sterbe, bin ich dem ausgeliefert, was kommt, kann nicht durch verschiedene Drogen und Medikamente die Art der Eindrücke bestimmen, die mein Bewusstsein noch erreichen.
Einig sind wir uns darin, dass wir das „wie“ gerne selber bestimmen würden und ganz gewiss keine Lust haben auf das, was heute durchaus üblich ist: das Hin- und Herschieben Fast-schon-Toter zwischen Pflegeheim und Intensivstation, hoffnungslos, kostenintensiv, menschenunwürdig. Die Welt kennt kein „normales Sterben“ mehr, wer dazu Anstalten macht, wird in den High-Tech-Kampfstand gegen das Unausweichliche verbracht, wo er mittels allerlei krasser Methoden „stabilisiert“ wird, um dann noch ein wenig weiter zu vegetieren. Bis zum nächsten „Kampfeinsatz“…
Können wir dem ausweichen? Wird sich an der gesellschaftlichen Haltung zu Tod und Sterben etwas geändert haben, bis wir – mal von statistischen Lebenserwartungen ausgegangen – „dran“ sind? Bei mir wäre das in dreißig Jahren, vielleicht zwanzig, wegen jahrzehntelangem Rauchen – wie wird es DANN sein, wenn all die Alten sowieso kaum mehr
finanzierbar sind? Wird sich eine neue „Kultur des selbst bestimmten Sterbens“ entwickeln? Muss Sterben eigentlich für alle Zeit der Schrecken schlechthin, das ganz große Drama mit viel Leid und Elend sein? Haben nicht andere Kulturen und die Menschen alter Zeiten die Dinge viel gelassener gesehen, als der Tod noch ein selbstverständlicher Teil des Lebens war?
Ich weiß, dass es etwas Vermessenes hat, so zu reden, ohne noch selbst „direkt betroffen“ zu sein. Zwar können wir alle jeden Tag sterben, jeder Arztbesuch kann beiläufig eine „finale Diagnose“ mit entsprechender Prognose zu Tage fördern („Sie haben vielleicht noch ein halbes Jahr…“), doch leben wir in der Regel so, als ginge das alles ewig. Zumindest im ganz normalen Alltag steht uns die eigene Vergänglichkeit selten vor Augen, wer schaut da auch gerne hin?
„Mach dir keine Sorgen!“, sage ich zu ihm, „bis es soweit ist, wird sich die neue Sterbekultur entwickelt haben, wenn nicht staatlich gefördert, dann eben privat organisiert!“ Das meine ich durchaus ernst: Es gibt ja jetzt schon Webforen zur Verabredung von Selbstmorden – wenn das Schule macht, werden sich da gewiss ein paar Dienstleister dran hängen: Sterben im Bayrischen Wald, Sterben zur Sommersonnenwende, Sterben als Massen-Event für alle, die den neuen Drang zur Massenveranstaltung verinnerlicht haben – schöne, wohl inszenierte Rituale, freudige „es-ist-geschafft-Feiern“, warum eigentlich nicht?
WER stirbt? Unser Gespräch geht weiter und kommt zur Frage nach dem „Ich“. Unser Yogalehrer hat den Weg der Selbsterkenntnis als das Schälen einer Zwiebel beschrieben: man entfernt eine Haut, um darunter eine weitere vorzufinden – und nirgends ist ein Kern, immer nur neue Schalen, in der Tiefe ist – NICHTS! „Wir“ existieren gar nicht, wer sollte also sterben?
Das ist eine spirituelle Weisheit, die man halt so hört, liest, vielleicht bewundert, immer mal wieder im Detail als richtig erlebt, wenn etwas, mit dem man sich heftig identifiziert hat, auf einmal seinen Charakter als „bedingtes Entstehen“ zeigt. Aber dennoch bleibt im Alltag immer ein Ich-Gefühl, ein Ich-Gedanke: MEINE Miete muss ich zahlen, da beisst die Maus keinen Faden ab!
Gleichzeitig wirkt die Beschäftigung mit dieser „Ich-Illusion“, wie es manche nennen, immer so, als wäre es etwas Hilfreiches, zu erkennen, dass da kein ICH ist: nichts, wovon sich sagen ließe, es sei sie die Substanz meines ureigenen Seins. Hurrah, ich bin niemand, eigentlich gar nicht da, wer also sollte sterben?
So dachte ich mir das öfter, wenn ich mal ein Buch darüber las, mit leichtem Bedauern, diese „Erkenntnis“ zwar intellektuell begreifen, aber nicht als lebendige Wahrheit spüren zu können. „Wüsste ich nicht, dass ich immer schon tot bin, würde ich es bedauern, aus diesem Leben zu scheiden!“ Selbst der rituelle Todesspruch der Samurai, der diese Wahrheit formuliert, lässt doch ahnen, dass auch sie, die stoisch dem Tod ins Auge sehenden Krieger, nicht so gänzlich einverstanden waren mit dem je eigenen Ableben, sondern recht nah am Bedauern, nah am Ich-Gefühl.
Mitten im Wechsel
In letzter Zeit stelle ich aber fest, dass es ganz schön irritieren kann, diejenigen Schalen der Zwiebel als bloße Schalen zu erkennen, die recht weit innen liegen! Da ich mit fünfzig mit allerlei Veränderungen meines Lebensgefühls rund um die kommende Menopause rechne, hab‘ ich mich ein wenig intensiver mit dem Hormongeschehen auseinander gesetzt, mich informiert, was genau weibliche und männliche Sexualhormone sind und was sie bewirken. Dabei stellte ich fest, dass ich bereits – zumindest hormonell gesehen – inmitten des Wechsels bin: ohne einen Test gemacht zu haben, weiß ich, dass das Östrogen weniger geworden ist und das (männliche) Testosteron nun ein größeres Gewicht hat: ich fühle mich sehr viel freier und selbstbewusster als früher, kann viel bestimmender auftreten, habe kein Problem damit, in Widerspruch zu irgendwem zu geraten: sei es der Geliebte, die Freunde, die Gesellschaft im Ganzen. Dass „da draußen“ in vieler Hinsicht Wahnsinn und Chaos herrschen, wirft mich nicht mehr um, bzw. stellt MICH vor mir selbst nicht in Frage. Auch sämtliche Erpressbarkeiten auf der Beziehungsebene sind Vergangenheit – wunderbar! Nun lese ich, dass diese Befindlichkeit wesentlich durch das neue Übergewicht des Testosteron gestützt, ja bedingt ist – wenn auch die FORM, in der ich das erlebe, durchaus „eigen“ ist. Allerdings ist auch dieses „Eigene“ wiederum auf die ganz persönliche Geschichte zurückzuführen, beginnend mit der Kindheit bis zum heutigen Tag.
Da weht mich dann so ein „Hauch von Nicht-Sein“ an, der ganz schön irritierend ist. Was immer ich betrachte, hat seine Ursachen und Bedingungen – und eben auch seine stoffliche Basis. Mittels der passenden Medikamente und Drogen ist es locker möglich, die innersten Gefühle, das Zentrum des Ich-Gefühls, drastisch zu verändern: von Depression zur Euphorie, von Gleichgültigkeit zu nervöser Getriebenheit – und es braucht noch nicht mal solche Mittel, allein schon die Ernährung ändert das Befinden!
WO also bin ICH? Ist da JEMAND? Wer sitzt hier am Monitor und schreibt das alles auf? Noch sind solche Anmutungen und Irritationen des Ich-Empfindens zeitweise Anwandlungen – aber sind sie nicht auch eine Perspektive? Ist es DAS, wohin ich mich wandle in diesen Jahren des Wechsels: weg vom Ich?
Was daraus folgt, wenn dem so wäre, ist eine gänzlich unbekannte Art von Freiheit. Nämlich die Freiheit, die Interessen, die „ich“ vertrete, selbst zu wählen. Jetzt bin ich, egal was ich darüber denken mag, doch immer noch und praktisch auf allen Ebenen im Dienste meiner EIGENEN Interessen gefangen: Überleben, GUT leben, dieses und jenes erreichen, was in diesem Zusammenhang nützlich sein könnte. Wollen und fürchten, streben und flüchten, einen möglichst guten Eindruck machen, geliebt werden wollen – die immer gleiche Maloche zugunsten eines Ichs, das sich mehr und mehr als substanzlos erweist. Und das den ganzen Aufwand also gar nicht lohnt
Was werde ich TUN, wenn dieses Ich und seine langweiligen Interessen nicht mehr Leitlinie des täglichen Handelns ist? Wie wird der Blick auf die Welt sich verändern – und die Gefühle?
Ich werde es erleben. Alt werden ist eine verdammt spannende Angelegenheit!
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