„Ich will mein eigener Chef sein!“. Der Wunsch nach Selbstbestimmung, nach freier Entfaltung der eigenen Kreativität, motiviert nahezu alle, die sich irgendwann mal selbstständig machen. Selbst beschließen, was man tut und wie man es tut, die Zeit selbst einteilen können, keine nervigen Endlos-Besprechungen im Team und mit Vorgesetzten: das Reich der Freiheit scheint zu winken, in dem man noch immer „seines Glückes Schmied“ sein kann.
Zehn Jahre arbeite ich nun schon auf eigene Rechnung. Ohne Zögern verließ ich 1995 die einzige längerfristige Anstellung meines Lebens, weil mich das Internet faszinierte wie kaum etwas zuvor. Nach zwei Jahren „Projekt leiten“ hatte ich die Nase auch gestrichen voll von den schwierigen Bedingungen eines „Trägers“, der sinnvolle (!) ABM-Maßnahmen für Akademiker veranstaltete. Oft klappten unsere komplexen Vorhaben nur dann, wenn alle beteiligten „Akteure“ ein wenig NEBEN den Vorschriften agierten – sie dazu zu bewegen, das um der Sache willen (Energiesparkampagnen) zu wagen, war keine Kleinigkeit. Ich war froh, in dem Laden nicht Geschäftsführerin sein zu müssen!
Im Reich der Freiheit
Dann also DIE FREIHEIT. Binnen eines Jahres autodidaktischer Einarbeitung schwamm ich im jungen Web wie der sprichwörtliche Fisch im Wasser und es kamen erste Webdesign-Aufträge. Anders als viele „Existenzgründer“, die sich Ende der 90ger selbständig machten, hatte ich nicht „Business geplant“ und viel Papier mit allerlei Hoffnungen gefüllt, sondern einfach drauf los gewerkelt: eigene Projekte im Reich der Netzkultur, kostenlos und mit Freude an der Sache, ganz ohne Gedanken ans Geld verdienen – ich hatte ja Arbeitslosengeld und irgendwas würde sich schon ergeben, wenn ich einfach meinem Dämon folgte.
Und ich hatte Glück, es war der richtige Zeitpunkt, das wachsende Web brauchte Webworker/innen, die Auftraggeber fanden sich „wie von selbst“. Nie musste ich Werbebriefe aussenden oder auf Stehpartys Visitenkarte verteilen, um „ins Geschäft zu kommen“. Meine Projekte und die Freude an der virtuellen Kommunikation waren Werbung genug. Lange lebte ich in der Euphorie der „Einheit von Leben und Arbeiten“: Was ich für Kunden tat, machte (fast) genauso viel Freude wie das, was ich auch ohne Auftrag tat – wow, was für ein Leben!
Im Grunde hat sich an meiner Art, zu arbeiten, bis heute nicht viel geändert, nur ist es schwieriger geworden, Euphorie zu erleben. Wo früher jeder Auftrag ein Abenteuer war, mit dem ich auf irgend eine Art zu neuen Ufern aufbrach, braucht es heute andere Motive, um Freude an der Arbeit zu entwickeln – etwa der Sinngehalt des zu erschaffenden Projekts, das anwenden dürfen der eigenen Fähigkeiten und Erfahrungen, und schlussendlich auch das schnöde Geld verdienen!
Rationalisierung
Geld verdienen über das Notwendigste hinaus war mir lange keinen Gedanken wert. Erst wenn mal nicht absehbar war, wie die übernächste Miete herein kommen würde, sorgte ich mich um mein Auskommen und dachte übers Einkommen nach. Und erst seit ich Wünsche habe, die nicht vor dem Monitor sitzend verwirklicht werden können, schaue ich genauer hin, auf welche Art und Weise ich die Aufträge abarbeite, wie ich das Honorar verhandle, wie ich zu neuen Kunden komme und wie viel Zeit ich eigentlich damit zubringe. So wird mir das Arbeiten selbst, der unternehmerische Aspekt daran, zum Abenteuer und nun bin ich dem Geheimnis auf der Spur, was eigentlich „Erfolg“ ist und wie er zustande kommt.
Wow, und was für ein Fass ich damit aufgemacht habe! Auf einmal sehe ich, wie irrational und uneffektiv ich oft vor mich hin werkle: da fließen locker mal fünf Stunden in eine Sache, die mir mit Glück 50 Euro mehr bringt, dafür vernachlässige ich Dinge, mit denen ich in der gleichen Zeit 150 hätte einnehmen können. Sowas hab‘ ich früher nicht mal bemerkt, da ich während der Arbeit nie daran dachte, „was hinten raus kommt“. Jetzt „rationalisiere“ ich, was ich tue und wundere mich: Hey, warum mach‘ ich das eigentlich? Wenn es schon kein Geld bringt, was ist es denn dann, was ich davon habe? Rationalisierung bedeutet in meinem Fall nicht, nun auf einmal alles dem Profit-Gedanken unterzuordnen, sondern mir die jeweiligen Motive bewusst zu machen, die mich „in Arbeit halten“ – und zwar ganz konkret, bezüglich jeder einzelnen Aktivität. Was habe ich davon, wenn es NICHT um Geld geht?
Pleasure, Pride, Profit, Peace – die motivierenden vier Ps
Das eigene tägliche Tun auf diese Art zu betrachten, beschert mir erstaunliche Erkenntnisse! Denn ich stelle fest: ich kreise des öfteren in alten Gewohnheiten und Routinen, die durch rein gar nichts mehr gerechtfertigt sind, die aber gleichwohl Zeit fressen und mich der Erschöpfung näher bringen. Ich leiste mir Pausen, ohne wirklich zu entspannen und tue Dinge, die weder Geld (Profit), noch Ruhm und Ehre (Pride), noch Freude am TUN (Pleasure), noch Sinngefühl oder Sicherheit (Peace) bringen – einfach so, weil sie mir im Alltag begegnen, weil ich gewohnt bin, die Dinge SO und nicht anders zu tun. Z.B. schreibe ich immer wieder Kunden seitenlange Erklärungsmails zu technischen Dingen, ohne dass das irgendwie nützlich wäre. Sie wollen ja nicht Webworker werden, sondern eine schicke Website, die ihre Aufgaben erfüllt. Da gehen mit Rückfragen locker mehrere Stunden drauf, die ich nie und nimmer auf eine Rechnung schreiben kann – warum mach ich das also?
Genau besehen, finde ich Motive von vorgestern, die heute nicht mehr gelten, jedoch Gewohnheit wurden. Etwa das Bedürfnis, die Verantwortung zu teilen: ein kundiger Kunde, der genau weiß, welche Variante aus verschiedenen Möglichkeiten ich aus welchem Grund auswähle, wird mir später nicht vorwerfen können, ich hätte die Sache „falsch“ gemacht. Und ich glänze mit Wissen, spiele mein umfangreiches Net-Knowhow aus, was mich lange Zeit stolz machte. Mittlerweile aber spielt das keine Rolle mehr, denn es ist ja doch selbstverständlich, als Webworkerin fachkompetent zu sein. Zudem hab‘ ich mich vor ein paar Jahren dagegen entschieden, als „technische Expertin“ zu reüssieren, sonst hätte ich das Webwriting-Magazin nicht aufgegeben und mich als Mit-Gründerin der CSS-Design-Liste nicht zurück gezogen. Was „unter der Haube“ einer Website vor sich geht, liefere ich in korrekter und zeitgemäßer Machart – aber als Thema, mich zu profilieren, interessiert es mich nicht wirklich. ALSO sollte ich auch keine Zeit darauf verwenden, halbe Romane über technische Dinge zu schreiben, wenn ein Kunde mal was nachfragt. In der Kürze liegt die Kraft! Unnötiges wegzulassen schafft Freiraum für Dinge, die Freude machen – das sehe ich erst so deutlich, seit ich mit einem Wochenplan arbeite.
Chefin sein reicht nicht
Oh ja, der Wochenplan beschert mir so manche Erkenntnis, die mir in Zeiten der To-Do-List komplett verborgen blieb! Zum Beispiel erkenne ich mit Schrecken das Ausmaß der Zerstreuung, der ich mich mutwillig aussetze: immer mal wieder ein Blick ins Mail-Programm, ein kleiner Ausflug in ein nettes Forum – kaum dass ich mich mal eine Stunde am Stück auf EINE SACHE konzentriere! Früher glaubte ich, es sei „befreites Arbeiten“, wenn ich nur jederzeit meinen Impulsen folgen kann. Etwa mailen, wenn mir danach ist, anstatt zügig fertig zu stellen, was ich gerade angefangen und einen Schritt weiter gebracht habe. Die Mails entführen mich jedoch in gänzlich andere Aktionsfelder privater und beruflicher Natur. Sie vermitteln „Erregungszustände“ und fordern Reaktionen, denen ich mich zwar zugunsten der laufenden Arbeit entziehen kann, doch nur mit einem miesen Gefühl des Ungenügens. Mal bleibt auch eine unangenehme Emotion, weil mir irgend ein Idiot was Ätzendes geschrieben hat, ein andermal ist es was Schönes, das mich so anzieht, dass ich die „eigentliche Arbeit“ plötzlich als Last empfinde. All das bringt Stress, Belastung, Verzögerung, ohne dass dem irgend etwas Positives gegenüber stünde, das ich durch dieses „zersplitterte arbeiten“ gewinnen würde. Freiheit? Nicht wirklich!
So erkenne ich mehr und mehr, dass die Freude, „sein eigener Chef zu sein“ erst dann wirklich Früchte trägt, wenn man etwas anderes gelernt hat: Nämlich „der eigene Angestellte“ zu sein – es ist ja sonst keiner da! Als Selbstständige bin ich das GANZE Unternehmen: in der Chefrolle plane ich meine Vorhaben, als Angestellte führe ich sie aus, als Chefin kontrolliere ich den Erfolg und sehe zu, was noch verbessert werden könnte. Und ich sehe: meine Angestellte trödelt, vermischt Privates und Berufliches, folgt den Launen des Augenblicks und verliert sich in allerlei Zerstreuungen. Ich muss sie wohl besser motivieren, denn kündigen kann ich ihr nicht.
Ab der nächsten Woche werde ich nicht nur die Arbeiten auf die Wochentage verteilen, sondern auch schätzen, wie viel Zeit sie im Einzelnen benötigen. Und dann erfassen, ob das gestimmt hat. Ich hoffe, meine Angestellte entwickelt eine Art „sportlichen Ehrgeiz“ und die Neugier, das auch selbst wissen zu wollen. Sklavische Disziplin kann ich von ihr nicht erwarten, denn dann droht sie mit der „inneren Kündigung“. Das aber bedeutet maximalen Schaden für das Ganze – wie in jedem Unternehmen.
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9 Kommentare zu „Selbstständig arbeiten: Rationalisierung als Abenteuer“.