Morgens fange ich nicht gleich mit dem Arbeiten an. Ich schau mal in die Emails, surfe auf diese oder jene Website, besuche ein Forum, gucke auf den letzten Diary-Eintrag – tja, auf was warte ich, was suche ich in diesen militant Sinn-freien Aktivitäten?
Es steht ja schon im Titel: ich suche die Leidenschaft, das Aufblitzen eines heftigen Interesses, das mich ergreifen und zum Einstieg in den Tag begeistern soll. In den ersten Jahren des Webs war dieses Erleben leicht zu haben, denn alles war neu und das Neue ist an sich schon reizvoll, ob man das nun blöd findet oder nicht. Irgendwann wird jedoch alles zur Routine, zum allzu Bekannten, das aus sich heraus keinen großen Reiz mehr ausübt. Wie ich feststellte, gilt das sogar für soziale Prozesse, die ich immer sehr spannend fand. Auch sie haben ihre üblichen Verläufe, Menschen bringen sich ein, setzen sich auseinander und wieder zusammen, einige scheiden aus, andere steigen zu Meinungsführern auf, Gruppen zerfallen und bilden sich neu – nun ja…
Früher fand ich es wichtig, jemandem zu widersprechen, der irgend einen Stuss verzapft. Doch schon bald erkannte ich, dass Aufmerksamkeit das größte Geschenk ist, das man „im virtuellen Leben“ machen kann, und dass es vielen Provokateuren einzig darum geht. Seither ignoriere ich alles, was auf bloße Kontroverse aus ist, und weiß doch gleichzeitig, dass meine Motive gar nicht so viel anders sind. Ich fühl‘ mich manchmal wie ein Roulette-Spieler, der zwar immer noch gewinnen will, aber das Spiel mit den Chips und der rollenden Kugel entsetzlich öde findet.
Was ich bis jetzt beschrieb, ist die eher passive Seite der Suche nach Leidenschaft: Man flaniert ein wenig herum und wartet auf Anreize und Impulse, die von außen kommen. Die aktive Seite ist mir ebenso vertraut: Tief eintauchen in ein Projekt, ins Schreiben eines Textes, ins Gestalten einer Website. Schafft man den Übergang vom täglichen Vielerlei ins konzentrierte Arbeiten an einer Sache, ist der Tag gerettet. Ich frag mich, warum es oft so schwer fällt, diesen Zustand zu erreichen, wenn ich doch genau weiß, dass es toll ist, wenn ich mal drin bin! Die Welt scheint sich verschworen zu haben, mich im Zustand der Zerstreuung zu halten, es braucht eine Kraftanstrengung, mich zu konzentrieren und so lange bei einer Sache zu bleiben, bis der „Flow“ erreicht ist.
Alles in allem empfinde ich eine Situation, in der ich mir solche Gedanken machen kann, als ungeheuer privilegiert. Familienmenschen haben andere Dinge im Kopf und müssen sich um den Nachschub an Erregungszuständen nicht sorgen. Auch alle, die einer abhängigen und wenig selbst bestimmten Arbeit nachgehen, sind solchen Überlegungen weitgehend enthoben: es gibt den Arbeitstag, das Reich der Notwendigkeit, und das Reich der Freiheit: den Feierabend, die Freizeit, den Urlaub. Die allermeisten sind froh, wenn der Arbeitstag vorüber ist und die selbst bestimmte Zeit beginnt. Bei mir dagegen ist das tendenziell alles eins: für die Harmonie zwischen Spannung und Entspannung, Flow und Zerstreuung, Erregung und Ruhe muss ich selber sorgen.
Ich hab‘ es nie anders gewollt und möchte wirklich nicht tauschen. Doch manchmal denke ich, ich mach‘ zuwenig aus dieser Situation, die mir so viele Freiheiten lässt. Es gibt höhere Werte als das eigene Befinden, sagt mir eine innere Stimme. Ich bin gespannt, ob sie mir auch mal ansagen wird, wo es hingehen soll.
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7 Kommentare zu „Die Suche nach der Leidenschaft“.