Endlich versteh‘ ich, was meinen Yogalehrer motivierte, uns Übende wieder und wieder zu ermahnen, auf uns selbst zu schauen und nicht nach außen, wenn wir etwas über unser „Mensch sein“ erfahren wollten. Da ich länger schon nicht in Gefahr stand, zu glauben, man fände „sich selbst“ in der Wissenschaft und Statistik, im Politischen, in einer Religion oder spirituellen Lehre, rannte er bei mir offene Türen ein. Auch meine Mitschüler waren mehrheitlich durchaus selbstbeobachtungsfähig und willig. Warum also immer wieder diese engagierten kleinen Reden?
Ha, damals hatte ich ja noch keine Ahnung, wie weit das „von sich absehen“ bei der Mehrheit meiner Mitmenschen reicht! Und auch selbst hatte ich noch weit mehr Konzepte im Kopf, über die ich viel lieber diskutierte, als dass ich für die Details „meiner selbst“ großes Interesse aufgebracht hätte. Zwar hatte ich im Zuge der Yoga-Übungen ausgiebig erfahren, wie Geist, Körper und Gefühl ineinander verschränkt sind, hatte gelernt, mich zu entspannen und mit Freude entdeckt, dass ein entspannter Körper weder Furcht noch Ärger kennt. Doch wurde „ich selbst“ mir auch weiterhin nur bei Gelegenheit eines Problems zum Thema, nicht einfach so. Schließlich hab‘ ich mich immer dabei, was sollte ich denn da suchen? Statt auf die damals so angesagte „Suche nach dem Selbst“ zu gehen, suchte ich lieber das, was mir fehlte oder nicht genügte: den großen Anderen, das Gegenüber, mit dem ich mich verstehen könnte – „ich“ war mir vergleichsweise uninteressant.
Der große Andere
Öfter schon hatte ich solche Gegenüber gefunden. Auch damals, in den Jahren der samstagmorgendlichen Yogastunden, lebte ich mit einem „liebsten Anderen“ zusammen. Mit ihm verstand ich mich wie nie zuvor mit einer anderen Person, und das schon seit etlichen Jahren. Im Reden über Gott und die Welt aus allen denkbaren Blickwinkeln konnte er mir in jede Assoziation, in jede gewünschte, mir spannend erscheinende Richtung folgen, mir aber auch voraus gehen in Bereiche, in die ich sonst nie im Leben „mal reingespürt“ hätte (z.B. Heideggers Denken, Hölderlins Gedichte, Schuberts Lieder). Und alles ohne Kontroverse, ohne Überzeugungsinteresse, sondern als gemeinsames Fragen, Betrachten, Abtasten möglicher Sichtweisen und Bewertungen – wunderbar!
Unser Verstehen war ein miteinander reden, mal Kaffee trinkend, mal spazieren gehend – zum Glück nicht mehr Alkohol-gestützt wie zur Zeit, als wir uns kennenlernten. Die Welt und „uns selbst“ bis in den hinterletzten Winkel besprechen, dialogisch das Dasein erkunden – auf unserem spezifischen Gipfel des „sich verstehens“ hielten wir viele Jahre die Stellung. Dass wir kein erotisches Miteinander zustande brachten, erschien uns mehr als Auszeichnung unserer Beziehung denn als Defizit. Er hatte einfach das Pech einer pietistisch inspirierten Erziehung genossen, die ihm jegliche Lust zu etwas sehr Zwiespältigem machte – und ich brauchte zu jener Zeit eine Art Kloster, um mich vom intensiven und ausgesprochen kämpferischen Beziehungsleben meiner jungen Erwachsenenjahre zu erholen. Mit einem Mann an meiner Seite, der nicht mein „Mann“ war, hatte ich weitgehend Ruhe und konnte mich anderen Dingen widmen.
Das Verblassen der Konzepte
Über zwölf Jahre vergingen so „im Gespräch“ und während dieser Zeit verblasste sowohl für ihn als auch für mich der Reiz vieler Inhalte, die wir gerne thematisiert hatten. Philosophische Ansichten, spirituelle Lehren, psychologische Erkenntnisse und das je eigene Erleben – wir hatten uns erschöpfend ausgetauscht, waren im Wesentlichen einig und änderten lange schon nicht mehr alle Nase lang unser Weltbild. Was also noch reden?
Ich merkte bald, dass sich das nicht nur ihm gegenüber so verhielt. Was sollte es mir noch geben, mich mit Anderen über dieselben Themen wieder und wieder auszutauschen? Was bedeutete es denn schon „einer Meinung zu sein“?? Man trinkt Kaffee oder geht spazieren, hat das befriedigende Gefühl, sich zu verstehen, oder spürt den Ärger, sich nicht verständlich machen zu können – und dann? Sind wir denn auf der Welt, um über sie zu reden?
So hätte ich das zu jener Zeit nicht formuliert, doch war das der Grund, aus dem wir uns nach zwölf Jahren trennten und in je eigene Wohnungen zogen.
Reden und „sich verstehen“ war also nicht genug. Gedankengebäude errichten oder abreißen erfüllt auf Dauer nicht – was aber dann? Wenn ich nicht mehr unterwegs bin, um irgendwelche Vorstellungen vom „richtigen Leben“ zu gewinnen oder zu verbreiten, was dann? Wenn es mich genauso langweilt, einer Meinung zu sein, wie es mich anödet, streiten zu sollen – was dann? Was will ich eigentlich vom Mitmenschen, wenn es nicht mehr darum geht, über etwas einig zu sein oder zu werden?
Der Sehnsucht auf der Spur
Ich wusste es nicht und begann also, „mir selbst“ Aufmerksamkeit zu schenken: Was will ich? Wonach sehne ich mich? Heraus ihr verrückten Ideen, abseitigen Träume, ihr politisch oder spirituell unkorrekten Strebungen! Ein roter Teppich dem Verdrängten, falls es noch irgendwo existiert – WAS will ich? Es muss doch ein Leben neben dem „Diskurs“ geben! Schokolade und langsam dicker werden kann es nicht sein, ebenso wenig ist „gesund leben“ an sich schon erfüllend.
Mein Blick richtete sich nun mit neuem Interesse nach innen. Während ich weiter meinen Impulsen und Ideen folgte, beobachtete ich die Gefühle, Empfindungen und Gedanken auf der Suche nach dem, was mich eigentlich motiviert, befriedigt und glücklich macht. Seltsamerweise war das viel schwieriger als der vertraute Blick auf das, was ärgert, deprimiert oder ängstigt. Wir sind offensichtlich als „Problemlöser“ optimiert, nicht als Genießer. Das sogenannte „Negative“ hatte ich allerdings auch früher schon angesehen, es analysiert, meist eine oder mehrere Ursachen erkannt, und – ausreichenden Leidensdruck vorausgesetzt – mich daran gemacht, etwas zu verändern: zumeist die äußeren Umstände, später dann auch „mich selbst“. (Bemühte Umerziehungsversuche waren allerdings nie nachhaltig erfolgreich).
Jetzt aber war ich mal nicht am „Problem lösen“, sondern wollte nur wissen, wonach es mich so „ganz von selbst“ verlangt und warum. In dieser Beobachtung bemerkte ich nebenbei 10.000 Seltsamkeiten, psychische Altlasten, Formungen, Überzeugungen, Widerstände, die mit dem Heute gar nichts mehr zu tun haben und dennoch weiter wirken – und ich landete inmitten lauter Fragwürdigkeiten! Begriffe, mit denen ich alltagssprachlich korrekt umgehe, geben da keinen Halt, sie verdampfen im Nebel des Undefinierbaren. Vielleicht mangelt es mir ja an Verstandeskraft, doch angesichts diverser Paradoxe nehme ich eher an, dass die gewohnten Formen des Denkens hier ihre Grenzen erreichen. Was ist zum Beispiel der Unterschied zwischen „nicht wollen“ und „nicht können“? Wenn ich etwas wirklich nicht will, dann bedeutet das doch auch, dass ich es nicht kann. Zu sagen: „ich könnte ja, wenn ich wollte“, hieße, sich etwas vormachen. Und: Was ich tun soll, das bilde ich mir ein, entscheiden zu können – aber kann ich bestimmen, was ich wollen soll? Wenn nicht, WER bestimmt, was ich will?
Innen und außen
Solche und ähnliche Irritationen lasse ich jetzt mal einfach beiseite, den es ging mir um etwas anderes, durchaus beschreibbares: Zu beobachten, was ich fühle, denke und spüre, der Blick auf die Auslöser, auf den Ablauf der Stimmungen, das Wechselspiel zwischen Reiz und Reaktion, Impuls und Handlung, brachte schon bald eine drastische Verschiebung mit sich. Was ich früher der „Innenwelt“ zugeordnet hatte, verlor diese Etikettierung. Ich konnte keinen grundsätzlichen Unterschied mehr sehen zwischen dem Fallen einer Schneeflocke und meiner Reaktion, wenn mich jemand schubst.
Je selbstverständlicher ich nach innen schaute wie auf einen x-beliebigen Vorgang der Außenwelt, desto deutlicher wurde mir, dass diese Trennung Innen/Außen nur eine sprachliche Konvention ist, kein wesentlicher Unterschied. Zwar kann das Innenleben sehr komplex aussehen, weil ganz verschiedene Wesensteile mit unterschiedlichen Motiven zusammen wirken, doch gibt’s ja auch in der Außenwelt „komplizierte Systeme“, die man nicht ganz so einfach durchschaut. Fakt ist: da geschieht etwas, das ich beobachten kann, innen wie außen – Leben ereignet sich. Inwieweit (und wie) ich das „mache“ und WER da macht, ist weitgehend ungeklärt. Daran mag sich mein Verstand die Zähne ausbeißen, doch kann ich das Thema auch gut links liegen lassen: es ist schon spektakulär genug, wenn man sich in vieler Hinsicht auf die Schliche kommt, z.B. die eigenen „Programme“ erkennt, die ablaufen, ohne dass ich sie bewusst angestoßen hätte.
Distanz und Gelassenheit
Ein weiteres, gar nicht zu überschätzendes Geschenk dieser Praxis ist die zunehmende Distanz zu dem, was die Beobachterin sieht. Es ist keine zwanghafte Distanz, denn ich kann „hinein switchen“ ins Erleben, mich von der Identifikation mit dem Geschehen ergreifen lassen, und die Lust, aber auch den Schmerz erleben, den das mit sich bringt. Oder ich sammle mich mehr im Beobachten, dann bin ich allermeist in Ruhe und Gelassenheit gegenüber den Dingen, die da statt finden – sogar gegenüber eigenen Erregungszuständen. (Es reizt natürlich, zu testen, wie weit das klappt… aber das ist ein anderes Thema).
Aus dieser, mir selbstverständlich gewordenen Seinsweise heraus, rede ich auch gern mit den Mitmenschen: hey, ich erlebe gerade dies und das – wie sieht denn das bei DIR aus??? Das ist für mich 10.000 mal interessanter als sich z.B. über Weltgeschehen, Markt und Medien zu unterhalten und dabei lediglich abstrakte Konzepte zu diskutieren, meist ohne den geringsten Bezug zum eigenen Fühlen oder ernst gemeintem Denken.
Bloß nicht hinsehen!
Womit ich wieder bei meinem aktuellen Schreibimpuls ankomme: das Erkennen, wie unwillig viele Menschen sind, in sich hinein zu schauen und einfach zu berichten, was sie da bemerken. Das Erschrecken, das ich empfinde, wenn ich z.B. jemanden erlebe, dem die Frage nach „ihm persönlich“ schon ganz fremd ist. Der dann ausschließlich von einem „man“ spricht, jeweils mit Bezug zu irgendwelchen Gruppierungen, Weltanschauungen, Statistiken, wissenschaftlichen Wahrheiten, Moden und Medien-Hypes – mich gruselt!
Und ich bemerke es immer öfter, in unterschiedlichen Formen. Nicht wenige fühlen sich angegriffen, wenn man sie nach der je ganz eigenen Sicht fragt (wären sie ehrlich, würde ja das gottgleiche Selbstbild schaden nehmen!). Andere zeigen sich geängstigt, als hätte das an-sich-denken etwas ernsthaft Sündhaftes. Wieder andere meinen, Psyche und Geist sollte man den Experten überlassen, und einige verstehen die Frage gar nicht, weil sie auch im eigenen inneren Monolog nie bei sich sind, und diesen niemals stoppen. Was für ein Elend!
Bald wird es niemanden mehr geben, der auch nur zugibt, dass er Durst hat, denke ich mir manchmal. Es könnte ja uncool wirken! (Und die sonst gern selbst wegzensierte Zynikerin schiebt nach: Wer kennt denn noch Durst oder Hunger? Wir doch nicht…).
Es wundert nicht, dass ich viel lieber alleine bin, als mich mit Leuten zu treffen, um zu „smalltalken“ oder kontrovers über Gedankengebäude zu diskutieren. Je älter ich werde, desto mehr erscheint mir das als verschwendete Zeit. Umso freudiger erlebe ich aber auch die Sternstunden, wenn es doch mal möglich ist, auf dieser Ebene der Selbstbeobachtungen mit jemandem zu sprechen, der – warum auch immer – nicht an der Oberfläche klebt.
Dorthin ruft mich jetzt allerdings meine Arbeit: ich muss dringend noch ein paar Oberflächen (=Webseiten) gestalten, sonst schaff‘ ich meine ToDo-List nicht und der Himmel fällt mir auf den Kopf!
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35 Kommentare zu „Mich selbst erkennen“.