Claudia am 03. Mai 2007 —

Von Müll-Müttern und anderen Verwahrlosungen

„Die Wohnung der Müll-Mutter“ als fette Schlagzeile und ein Bild von einem unübersichtlichen Haufen Gerümpel begrüßt mich beim morgendlichen Milch holen im Eckladen. Seit Tagen ereifert sich ein Berliner Boulevard-Blatt über den Fall einer Mutter, deren drei Kinder man alleine in einer verdreckten Wohnung angetroffen haben soll. In der Abendschau wird allerdings berichtet, dass die Kinder in der Schule „in keiner Weise auffällig“ gewesen seien: für behördliches Einschreiten hätte es keinerlei Anlass gegeben.

Der Fall des verhungerten Arbeitslosen, der wohl an Depressionen litt und deshalb den Kontakt zur Arbeitsagentur einfach abbrach, wirft ebenfalls die Frage auf, wie viel „fürsorgliche Überwachung“ heute eigentlich zu fordern (oder zu fürchten?) wäre. Um den sogenannten Leistungsbetrug aufzuklären, schickt die Agentur Mitarbeiter zu den Leistungsempfängern, um dort die Zahnbürsten zu kontrollieren (eheähnliches Verhältnis??), aber um mal zu schauen, was los ist, wenn jemand sich gar nicht rührt, gibt’s angeblich nicht genug Mitarbeiter.

Trotz allseits bejubeltem Aufschwung verwahrlost die Gesellschaft immer mehr – und wie ich finde nicht nur in den Unterschichten. Das „Gewissen“ bzw. die innere Werte-Orientierung, die einst zur Grundausstattung eines Erwachsenen gehörte, wird zunehmend durch äußere Regeln, Zwänge und Überwachung recht und schlecht ersetzt. „Gott sieht’s!“ war noch in den 50gern und 60gern ein Argument, nicht alles zu tun, was möglich wäre – heute ist es die Video-Kamera, die im Dienste der immer weniger solidarischen Gesellschaft Fehlverhalten unterbinden soll.

Wer nicht zu den Vorsorge-Untersuchungen geht, zahlt mehr für seinen Krebs – auch das ist heute Realität und ich vermute mal, es ist nur der Anfang. Die Neigung, das ‚Fehlverhalten‘ des Mitmenschen im Bewusstsein eigener Schwachstellen mitzutragen, geht gegen Null: Fettleibigkeit, Rauchen, Risiko-Sport – tja wieso sollte denn die Folgen jemand mitbezahlen? Es steht doch jedem frei, sich zu verhalten, wie er mag! Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen, wer sich nicht rasiert und ordentlich kämmt, ist selber schuld an seiner Lage. Wer die Termine der Arbeitsagentur nicht wahrnimmt, muss halt verhungern – und wer seine Wohnung nicht in Schuss hält, gar Messi-Verhaltensweisen entwickelt, wird immerhin als Müllmutter berühmt!

Es ekelt mich. Als junger Mensch wäre ich auf irgend welche Barrikaden gestiegen und hätte gegen „die Herrschenden“, das „System“ oder „die Zustände“ gekämpft. Heute kann ich keine eindeutig „Bösen“ mehr erkennen, sehe keine einfachen Lösungen und wüsste nicht, wie all diesen Verwahrlosungen irgend etwas entgegen zu setzen wäre, das mehr löst als den zufälligen Einzelfall.

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Diskussion

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9 Kommentare zu „Von Müll-Müttern und anderen Verwahrlosungen“.

  1. Wow, Schön geschrieben und beschrieben!

  2. Liebe Claudia,

    Du beschreibst das sehr treffend!
    Das ist das große Problem: es ist kein eindeutig „Böser“ zu erkennen und das „Böse“ schon überhaupt nicht. Wir fühlen uns oft, angesichts vieler Meldungen, ohnmächtig, mit dem sicheren Gefühl, wir müssten uns wehren!

  3. Die Gesellschaft verwahrlost immer mehr. Das hast du gut erkannt. Ebenso wie die Medien. Die Medien suchen Schuldige. Und du? Und wir?
    Es ist Zeit auf die Barrikaden zu gehen! Warum finden wir den Weg nicht dahin?

    Die Gesellschaft hat ihren Instinkt verloren. Wir lassen uns viel zu viel erzählen.

  4. ich denke, es hängt auch damit zusammen, dass „alte“ werte wie z. b. religion immer mehr an bedeutung verlieren und nichts vergleichbares an ihre stelle getreten ist. wenn ich an die generation meiner eltern denke, da durfte man nicht mal unverheiratet zusammenleben, die gesellschaftlichen konventionen waren sehr strikt und alle haben sich daran gehalten. heute gibt es die vermeintliche freiheit, die aber durch die notwendigkeit, das überleben zu sichern, begrenzt wird – und mit moralischer freiheit muss man umgehen können.

  5. Hallo,

    wie wäre es mit Erziehung?

    Gruß Hanskarl

  6. Meiner Meinung nach ist dieses ganze Thema nicht in einigen Sätzen abzuhandeln. Dazu ist das alles viel zu komplex.

    Und die Klage, dass „die Gesellschaft“ immer mehr verwahrlost bringt nichts, wenn man dies eben nur beklagt, aber selber nicht handelt.

    „Die Gesellschaft“ sind wir alle.
    Und ich zähle mich natürlich auch dazu. Denn ich beklage auch viele Dinge, die ich ungerecht finde oder die mich auf die Palme bringen.
    Aber eine Demo? Die hab ich auch noch nicht organisiert.

    Klagen alleine nützt keinem etwas. Selbst etwas tun, um das Miteinander zu verändern, zu verbessern – in kleinen Schritten und im nahen Umfeld – geht das auch!

    Und ich denke auch in der Richtung wie limone und Hanskarl:

    die Vermittlung von ethischen / moralischen Werten ist die Grundlage einer funktionierenden Gesellschaft – ebenso wie eine Erziehung, die Freiheiten lässt, aber auch Grenzen setzt!

    Freundliche Grüße, Edith T.

  7. Moin moin, …

    Unsere Gesellschaft wird zunehmend vom Diktat der Quantisierung zersetzt, Zahlen spielen in der heutigen Welt die Hauptrolle. Alles (auch Psychologisches und Soziales) muss in Zahlen ausdrückbar sein, damit es „Die Maschine“ schnell und effizient verarbeiten und bewerten kann… Zahlen, auch wenn es unendlich viele sind, sind aber das Gegenteil von „Einheit“. Das von den Mathematikern proklamierte „Kontinuum der reellen Zahlen“ ist z.B. ein Absurdum an sich. Ein Kübel voll Sand wird niemals zum Fels, egal wie beliebig klein und zahlreich man die Körner wählt… Logik kann nur auf quantisierbare Elemente angewandt werden. Die Trichotomie der Zahlen (grösser, kleiner, gleich) stellt die Basis aller logischen Prozesse dar.
    Die Basis der Logik ist das Herausfinden bzw. Herausstellen von Andersartigkeit…
    – Auf der psychologischen Ebene ist bekanntlich gerade die Andersartigkeit ein instinktiver Anlass zu Misstrauen, Vorurteil, Angst und präventativer Feindseligkeit. Das _nicht_ nur nebenbei… –

    Unser gesamtes gesellschaftliches Leben, so empfinde ich es zumindest, wird von dieser galoppierenden Quantisierungssucht, und damit Zerstückelung, in unserem Denken infiziert. Kinder, Schüler sollen immer früher mit immer mehr Fach- und Detailwissen, sowie logisch basierten Erfolgsstrategien, für „DAS LEBEN“ fit gemacht werden. Aber „Strategien“ sind „Schlacht“pläne… ob man damit zur Einheit findet? Und dann entsetzt man sich, wenn wieder irgendein psychisch entgleister Jugendlicher, kalt, maschinenhaft wie ein Robocop, aber mit präziser logischer Vorbereitung und Durchführung, und, aus seinem entstelltenen Blickwinkel logisch konsequent, eine Wahnsinnstat vollbringt…

    Warum hört man immer wieder diesen Satz: “ …aber das ist Alles viel zu komplex um es in diesem Rahmen (oder überhaupt) diskutieren zu können…“ ? Wir ersticken, werden paralysiert von der Unendlichkeit der logischen Möglichkeiten, wenn wir versuchen für ein Problem mit vielen Variablen und Rückkoppelungen eine Lösung zu finden. Irgendwie müsste die Lösung wo anders her kommen, denke ich. Nicht in der nur noch per Computer bewältigbaren Flut von Daten, die uns zu Helfershelfern der Maschine degradiert, indem wir unsere Welt versuchen maschinengerecht quantitativ zu analysieren und „wahr“ zu nehmen.

    Ich glaube der Egoismus wie ihn ihn diese materiell orientierte Gesellschaft fördert, ist letzlich nichts anderes als die innere Umorientierung (Umerziehung?) auf die Illusion hin, daß durch quantitatives Anhäufen von Wissen, Macht Gütern, etc., eben jener Zustand des Ganz-Seins, im Sinne des oben erwähnten Sand/Fels-Beispiels erreicht werden könnte.
    Irgendwo in der Bibel soll der Satz stehen: „Mensch bedenke daß du sterblich bist, auf daß du weise werdest“

    In diesem Sinne …
    Gruss Micayon

  8. @Edith,

    ich habe schon Demos organisiert und 12 Jahre meines Lebens mit dem „politischen Kampf“ an verschiedenen Fronten (Stadtteilarbeit, Wohnungs/Sanierungspolitik, Verkehrsberuhigung, etc.) zugebracht. Später dann noch einmal gut zwei Jahre Klimaschutzkampagnen, als das noch kein „großes Thema“ war. Hier & heute nehme ich mir heraus, meinem Unmut Ausdruck zu geben, ohne gleich ein dickes Buch zu verfassen, das versucht, der Komplexität gerecht zu werden – das können andere viel besser!

    @Micayon

    interessanter Beitrag! Das „rechnende Denken“, die Dominanz des Verstandes – ja, das sehe ich auch so! Eine „Lösung“ gibt es da m.e. nur im Individuum, wenn es sich radikal davon löst und andere Dinge als oberste Werte setzt.

    @limone

    Tatsache ist auch, dass wir DAHIN nicht zurück wollen, nicht?

    @all

    ich danke Euch für Eure Kommentare!

    lg

    Claudia

  9. Hallo Claudia,

    meine Anmerkung, dass „klagen – aber nichts tun“ keinem nützt, war gar nicht auf dich persönlich gemünzt.
    Ich kann mir darüber, wie du dich persönlich verhälst, gar kein Urteil erlauben und will das auch gar nicht!

    Es ist aber der weitverbreitete Trend „der Allgemeinheit“, sich über alles, was nicht oder falsch läuft, zu beschweren, ohne dass man sich selber bewegt und versucht, etwas zu verändern.

    Dass man das obige Thema nicht mit ein paar Kommentaren abhandeln kann, das ist auch jetzt noch meine Meinung, und so habe ich es auch formuliert.

    Ins Mittelalter wollen wir wohl alle nicht zurück.
    Aber die Vermittlung von Werten und eine werteorientierte Erziehung halte ich nach wie vor für wichtig, um zu einer gut funktionierenden „Gesellschaft“ zu kommen, die wieder jeden einzelnen Menschen achtet – und zwar so, wie er ist!

    Liebe Grüße, Edith T.