„Die Wohnung der Müll-Mutter“ als fette Schlagzeile und ein Bild von einem unübersichtlichen Haufen Gerümpel begrüßt mich beim morgendlichen Milch holen im Eckladen. Seit Tagen ereifert sich ein Berliner Boulevard-Blatt über den Fall einer Mutter, deren drei Kinder man alleine in einer verdreckten Wohnung angetroffen haben soll. In der Abendschau wird allerdings berichtet, dass die Kinder in der Schule „in keiner Weise auffällig“ gewesen seien: für behördliches Einschreiten hätte es keinerlei Anlass gegeben.
Der Fall des verhungerten Arbeitslosen, der wohl an Depressionen litt und deshalb den Kontakt zur Arbeitsagentur einfach abbrach, wirft ebenfalls die Frage auf, wie viel „fürsorgliche Überwachung“ heute eigentlich zu fordern (oder zu fürchten?) wäre. Um den sogenannten Leistungsbetrug aufzuklären, schickt die Agentur Mitarbeiter zu den Leistungsempfängern, um dort die Zahnbürsten zu kontrollieren (eheähnliches Verhältnis??), aber um mal zu schauen, was los ist, wenn jemand sich gar nicht rührt, gibt’s angeblich nicht genug Mitarbeiter.
Trotz allseits bejubeltem Aufschwung verwahrlost die Gesellschaft immer mehr – und wie ich finde nicht nur in den Unterschichten. Das „Gewissen“ bzw. die innere Werte-Orientierung, die einst zur Grundausstattung eines Erwachsenen gehörte, wird zunehmend durch äußere Regeln, Zwänge und Überwachung recht und schlecht ersetzt. „Gott sieht’s!“ war noch in den 50gern und 60gern ein Argument, nicht alles zu tun, was möglich wäre – heute ist es die Video-Kamera, die im Dienste der immer weniger solidarischen Gesellschaft Fehlverhalten unterbinden soll.
Wer nicht zu den Vorsorge-Untersuchungen geht, zahlt mehr für seinen Krebs – auch das ist heute Realität und ich vermute mal, es ist nur der Anfang. Die Neigung, das ‚Fehlverhalten‘ des Mitmenschen im Bewusstsein eigener Schwachstellen mitzutragen, geht gegen Null: Fettleibigkeit, Rauchen, Risiko-Sport – tja wieso sollte denn die Folgen jemand mitbezahlen? Es steht doch jedem frei, sich zu verhalten, wie er mag! Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen, wer sich nicht rasiert und ordentlich kämmt, ist selber schuld an seiner Lage. Wer die Termine der Arbeitsagentur nicht wahrnimmt, muss halt verhungern – und wer seine Wohnung nicht in Schuss hält, gar Messi-Verhaltensweisen entwickelt, wird immerhin als Müllmutter berühmt!
Es ekelt mich. Als junger Mensch wäre ich auf irgend welche Barrikaden gestiegen und hätte gegen „die Herrschenden“, das „System“ oder „die Zustände“ gekämpft. Heute kann ich keine eindeutig „Bösen“ mehr erkennen, sehe keine einfachen Lösungen und wüsste nicht, wie all diesen Verwahrlosungen irgend etwas entgegen zu setzen wäre, das mehr löst als den zufälligen Einzelfall.
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9 Kommentare zu „Von Müll-Müttern und anderen Verwahrlosungen“.