Ein Gespräch im Webzettel-Blog gibt mir den Anstoß zu diesem Thema: Reden wir heute weniger miteinander als früher, wie es Michael in seinem Beitrag „Merkwürdiger Frieden“ nahe legt? Da heißt es: „Vielleicht ist man ja auch müde geworden, miteinander zu reden, weil ja doch alle dasselbe sagen, dasselbe denken, dasselbe wissen. Man weiß, daß es so friedlich im Grunde gar nicht ist und daß es trotz aller Individualität überhaupt keine Alternative dazu gibt, jetzt hier zu sein und dorthin zu fahren, wo man nun einmal hinfahren muß. Also wozu darüber noch viele Worte verlieren?“
Man kratzt nur an der Oberfläche, wenn man – wie ich es im Kommentar dazu tat – auf die Anonymität der Großstadt verweist, wo es ja kaum erträglich wäre, müsste man mit allen reden, denen man im öffentlichen Raum begegnet. Da es unhöflich ist, Leute einfach nur anzustarren, ohne Kontakt aufzunehmen, geht der Blick üblicherweise aneinander vorbei, oder man versenkt sich, z.B. in der U-Bahn, ins Lesen einer Zeitung. Alles ganz normal – oder doch nicht? In südlichen Ländern, z.B. in Italien, hab‘ ich weit kommunikativere und fröhlichere Situationen in Bahnen und Bussen erlebt als hierzulande – es scheint also auch am Nationalcharakter zu liegen (letztlich am Klima?), wieviel spontanes Plaudern mit Fremden normalerweise drin ist.
Wie ich mich in solchen Situationen fühle, ist allerdings eine ganz andere Baustelle: je nach Stimmung und eigener Lebenslage kann ich mich einsam und getrennt fühlen, als wäre da eine unsichtbare Glasscheibe zwischen mir und den anderen Menschen. Oder ich bin selber „abwesend“, verstrickt in Gedanken über Zukunft und Vergangenheit, dann nehme ich den Mitmenschen gar nicht wahr. Bin ich dagegen im Hier und Jetzt tatsächlich ganz da, kommt schon mal ein freundlicher Blickwechsel zustande – oder derjenige schaut weg, weil er selber gerade nicht bereit ist, einen solchen Minimalkontakt entstehen zu lassen. Auch ok, denn wenn ich „nur schaue“, bin ich frei vom Verlangen nach irgend etwas, fühle mich also nicht persönlich abgelehnt, sondern registriere einfach die Verschlossenheit des Anderen, genau wie die Temperatur des Waggons oder die Kratzer auf den Scheiben.
Die Geste des Sprechens
Mein Drang nach Gesprächen hat im Lauf der Jahre insgesamt abgenommen. In Gruppensituationen, die meistens ein wirres Durcheinander an Smalltalk mit sich bringen, fühle ich mich eher unwohl, denn das Geschehen bindet meine Aufmerksamkeit, ohne dass ich irgend etwas davon hätte.
Was aber will ich denn HABEN, wenn ich mit jemandem spreche? Warum überhaupt miteinander reden? Vilém Flusser hat dazu etwas sehr Schönes geschrieben, das ich hier einfach mal zitiere:
„Man spricht nicht so sehr, weil man ‚etwas zu sagen hat‘, sondern weil das Wort die Mauer des Schweigens durchbricht. In der Gegenwart allerdings ist diese Grundtatsache des Sprechens in Vergessenheit geraten. Die Tore der Worte haben sich sperrangelweit pathologisch geöffnet, und die Logorheia des Geredes überschwemmt die Gegend. Man redet, weil man verlernt hat zu sprechen, und man hat es verlernt, weil es nichts zu verschweigen gibt: die Worte haben ihre Strahlen verloren. Es muss in anderen, früheren Situationen vor der Inflation des Wortes ein Gewicht des Sprechens gegeben haben, einen Ernst der Geste des Sprechens, oder wie man vielleicht sagte, ein Messen des Wortes, ein maßvolles Sprechen, wie man es noch bei Bauern und einsam Lebenden antrifft, bei welchen das Sprechen sich noch als ein Brechen des Schweigens und nicht als ein Zerreden der Stille auswies. Dieses ursprüngliche Gewicht der Geste des Sprechens, und nicht die leichtfertige Geste des Geredes, gilt es hier zu fassen. Also nicht die allerorts beobachtbare Bewegung der Mundorgane, welche die Luft auf Marktplätzen, in TVs und Vortragshallen zum Vibirieren bringt, sondern die weit seltenere Geste, bei welcher Worte unwiderruflich aus dem Bereich der Betrachtung in den Bereich des Zusammenseins mit anderen gelangen.“
aus: Gesten – Versuch einer Phänomenologie / Die Geste des Sprechens, S.55
In den Bereich des Zusammenseins gelangen – das ist es wohl, was wir mittels des Sprechens wollen, aber durch bloßes Gerede allzu oft selbst verhindern. Wobei ich allerdings meine, dass es gerade dann gut gelingt, wenn die Beteiligten eine Haltung „reiner Betrachtung“ einzunehmen im Stande sind. Und zwar nicht der Betrachtung des Unwesentlichen (Klatsch und Tratsch), das Flusser hier vermutlich meint, sondern eine durchgängige quasi „objektive“ Betrachtung sämtlichen Geschehens, einschließlich dessen, was ich selber gerade bin. Dann ereignet sich ein gemeinsames „Hören auf das Sein“ und damit ein Zusammensein, wie es nicht möglich ist, wenn man einander mit dem je eigenen Interesse zutextet.
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10 Kommentare zu „Miteinander reden?“.