Aufstehen, kurz ins Bad, dann rüber in die Küche, Espressokanne ausspülen, neuen Kaffe rein, glatt streichen. Nun das Wasser in die untere Hälfte, Kanne zusammen drehen, wo ist das Feuerzeug? Ah, hier! Fehlt noch der Milchtopf, ein halber Liter, wie immer. Während Kaffee und Milch auf sich warten lassen, spüle ich ein paar Tassen und Teller von gestern abend. „Kung fu“ heißt vollständige Handlung, sagte mein Ex-Lebensgefährte immer, wenn ich das Spülen auf später verschob. Lange Zeit spülte ich sofort, ganz ohne innere Widerstände, stolz auf „Kung fu“ und wie weit ich es in den kleinen Dingen gebracht habe. Dann wieder langweilt mich das. Mal einen halben Tag einfach alles abstellen, nur den Monitor als Tor zur Welt anerkennen, mit einem Blick die Küche als auf dem Weg in die Verwahrlosung erkennen – huch, will ich das? Bin ich das? Drohe ich, wieder so zu werden? Blödsinn, es gibt keinen Weg zurück, selbst wenn ich Sorgen hätte, wenn ich leiden würde wie ein Schwein, würde ich doch spätestens morgens das dreckige Geschirr spülen. Dann erst recht.
Mit der physischen Verwahrlosung kann ich höchstens noch kokettieren, kleiner privater Protest gegen das Sinnvolle und das Streben danach, obwohl doch am Ende alles aus ist. Mein innerer Kritiker meldet sich zu Wort, kommt mit spirituellen Weisheiten, zeigt mit dem Finger nach oben, doch lass ich mich heute nicht einlullen und kontere mit kürzlich angelesenen Erkenntnissen aus der Hirnforschung: hey, es ist doch jetzt bekannt, wie der Geist entsteht! Alles nur komplexe Verschaltung, feuernde Neuronen, Ausweitung der Speicherkapazität, so dass nicht nur das Erleben, sondern auch Bilder dieses Erlebens abgespeichert werden können: Voilá – and the universe proudly presents: Bewusstsein, sogar Selbstbewusstsein! Der „Beobachter“ als Funktion einer Art zweiten Festplatte – nettes Feature, aber kein Fahrschein zur Transzendenz. Lass mir also meine kleinen Spiele mit dem Sinnlosen und sei froh, dass ich nicht wirklich abdrifte, sondern brav weiter funktioniere. Nicht mal die Laune sinkt.
„Da ist ein Knoten!“, sagte neulich mein Liebster, als er sich liebevoll an meiner linken Brust zu schaffen machte. Ich registrierte für einen Moment das Sausen des Fallbeils, blickte in den Abgrund, der sich da auftat, und dachte: Aha, nun geht es also los, ab jetzt ist Schluss mit lustig! Sagte dann zu ihm: „Na, da muss ich wohl in den nächsten Tagen mal zum Arzt“ und signalisierte, dass mir ein Themawechsel gut passen würde. Dem Sterben entgehe ich nicht, das stimmt. Aber soll ich mir deshalb diese schöne geile Stunde vermiesen lassen? Ich änderte meine Haltung, richtete mich auf und umarmte ihn. Seine Hände interessierten sich weiter für meine Brüste, während ich meine Entschlossenheit beobachtete, vom Abgrund abzusehen, mich abzuwenden, einfach einzutauchen ins Alltägliche – schließlich kann ich mir mittlerweile meine Geistesinhalte weitgehend wählen, wofür soll das gut sein, wenn nicht für solche Gelegenheiten? Ich würde mich später kümmern, jetzt sollte gefälligst alles weiter gehen wie gewohnt.
„Hm – es war wohl nur das zusammen gedrückte Gewebe in der anderen Stellung!“ Erleichterung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Ich sah das Fallbeil wieder im Nichts verschwinden. Und tschüss – bis demnächst! So oder so ähnlich wird es also sein, wenn ich die „finale Diagnose“ vernehme, das „Urteil“, das ja doch immer schon gefällt ist seit ich geboren bin. Für die kurze Minute hab‘ ich mich ganz gut gehalten, stelle ich anerkennend fest. Gleichzeitig ist da aber zuviel Erleichterung, als dass ich mir meines inneren Friedens allzu sicher sein könnte. Nun, es wird Gelegenheit geben, die Erfahrung zu vertiefen, das ist sicher.
Der Kaffee ist jetzt fertig, die Milch kurz vor dem Überkochen. Beides fülle ich in die Thermoskanne, die ich mit ins Zimmer nehmen werde. Dann treibt meine Schwachblase mich nochmal kurz ins Bad: Himmel, schon wieder ist das Klo verstopft! Jetzt habe ich die Wahl, die Schüssel über den Tag immer wieder mit Wasser voll laufen zu lassen und das beste zu hoffen, oder ich greife mit dem ganzen Arm in die Scheiße und bereinige das Hindernis mechanisch. Letzteres wäre wohl eher „Kung fu“, vollständige Handlung.
Diesem Blog per E-Mail folgen…
Diskussion
Kommentare abonnieren (RSS)
11 Kommentare zu „Das Fallbeil“.